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Die Meinung
19. April 2016

Verkehrswende? Nein! Wir leben ja noch in den 50er Jahren.

Speckgürtel im ursprünglichen Sinn sind in der Fitness-Gesellschaft mega out. Als regionale Energiespeckgürtel im ländlichen Raum können sie allerdings zum Fundament einer zukunftsfähigen Energieversorgung in Deutschland werden. Baden-Württemberg kann dabei zur Modellregion werden.

Prof. Dr. Andreas Knie GeschäftsführerInnovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ)

Prof. Dr. Andreas Knie GeschäftsführerInnovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ)
Prof. Dr. Andreas Knie leitet das Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) auf dem Euref-Campus in Berlin (Foto: InnoZ)
Prof. Dr. Andreas Knie leitet das Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) auf dem Euref-Campus in Berlin (Foto: InnoZ)

19.04.2016 – Der Anteil regenerativer Energien beträgt bei den Verkehrsleistungen im Personen- und Güterverkehr in Deutschland zurzeit 4,7 Prozent. Im Jahre 2020 wird der Verkehr aufgrund der Effizienzgewinne in den Sektoren Strom und Wärme und des weiter kontinuierlichen Anstieges der Verkehrsleistungen rund 50 Prozent des gesamten Energiemarktes darstellen. Wir haben also noch mehr zu tun als PV Anlagen aufs Dach zu bauen oder sich an genossenschaftlichen Windparks zu beteiligen. Aber was tun?

Fahrt alle Busse oder Bahnen, wäre eine Option. Denn die werden ja mehrheitlich mit Strom betrieben und könnten daher leicht umgestellt werden. Seit 1990 liegt der Anteil der öffentlichen Nah- und Fernverkehre mit Bussen und Bahnen in etwa aber nur bei 15 Prozent. Innerhalb der einzelnen Segmente Schienenfernverkehr, Schienennahverkehr, Busse oder Straßenbahnen gibt es immer mal wieder kleine Verschiebungen. Nur mal so zum Vergleich: in der „alten“ Bundesrepublik betrugt der Anteil der öffentlichen Verkehre im Jahre 1960 noch knapp 36 Prozent, in der „alten“ DDR lag dieser Wert sogar noch deutlich höher. Eine Bahnreform und auch der beträchtliche Ausbau insbesondere des Regionalverkehrs haben es dennoch nicht geschafft, eine dem Strommarkt vergleichbare Entwicklungsrichtung zu geben. Man muss ganz nüchtern konstatieren, wir sind von einer Verkehrswende weiter entfernt denn je.

Die autogerechte Gesellschaft der frühen Jahre

Dies hat Gründe. Seit den 1950er Jahren begann in der alten Bundesrepublik eine konsequente Förderung des privaten Automobilbesitzes. Bereits in den 1920er Jahren waren sich die Architekten, Verkehrs- und Städteplaner in West und Ost systemübergreifend darin einig, dass die Zukunft des Verkehrs eindeutig dem Auto gehört. Jeder sollte ein eigenes Auto besitzen und damit auch fahren können. Besonders gerne wird der dem damaligen Verkehrsminister Georg Leber zugeschriebene Satz zitiert, keiner soll es weiter als 25 Kilometer zur nächsten Autobahnausfahrt haben.

Man begann nicht nur ein gigantisches Autobahnnetz zu planen und zu bauen, sondern dem Automobil auch den Stadtraum so attraktiv wie nur irgend möglich zu gestalten. Wir erinnern uns noch an den Slogan „was fehlt, sind Straßen“. Dafür brauchte man Platz. Der Senat in West-Berlin beschloss – wie viele andere Kommunen in der alten Bundesrepublik auch – bereits 1953 dafür die Straßenbahn abzuschaffen, obwohl zu dieser Zeit dieses Verkehrsmittel gut zwei Drittel aller Berliner und Berliner transportierte und ein nennenswerter privater Autoverkehr noch gar nicht existierte.

Politik gestaltete damals noch tatsächlich die Zukunft und man traute sich Einiges zu. Beispielsweise in Berlin ein gigantisches Stadtautobahnnetz bis mitten in die Wohngebiete. Wer noch einen alten Stadtplan aus den 1970er Jahren besitzt, erkennt, dass beispielsweise auf dem Kreuzberger Oranienplatz ein riesiges Autobahnkreuz geplant war. Dass Autos genügend Platz bekamen, war gleichsam gesetzlich vorgeschrieben, beispielsweise in der Stellplatzverordnung, die unmittelbar aus der „Reichsgaragenordnung“ stammt: jeder der Wohnungen, Fabriken oder öffentliche Gebäude baut, muss Stellplätze für Autos vorhalten! Begleitet wurde die Popularisierung von einer autofreundlichen Steuergesetzgebung, die Autos – egal ob gewerblich oder privat genutzt – zu idealen Abschreibungsobjekten machten. Und wer weit fahren muss, kann noch zusätzlich die Fahrkosten steuerlich geltend machen.

Autofreundliche Politik setzt sich fort bis heute

Man könnte denken ja, das war vielleicht in den frühen 1950er und 1960er Jahren so, aber jetzt haben wir doch viel zu viele Autos, der Platz reicht nicht mehr aus, keiner will noch mehr Autobahnen. Die Menschen empfinden die Autos mehr und mehr als bedrohlich und leiden zunehmend an der großen Fahrzeugmenge, die Abgase und Abriebe der Fahrzeuge gefährden die Gesundheit insbesondere der Stadtbewohner. Und wer in Freiburg, Tübingen oder in Prenzlauer Berg unterwegs ist, könnte den Eindruck gewinnen, die Menschen fahren mittlerweile ja mehr Fahrrad oder nehmen tatsächlich die Busse oder Bahnen und was noch an Autos gebraucht wird, das teilt man sich privat oder nutzt das Carsharing.

Nein, die autofreundliche Politik ist keine historische sondern eine höchst aktuelle Wahrheit, die immer noch gilt. Wir haben die Welt der 1950er Jahre, die Wünsche, Sehnsüchte und auch natürlich die Erkenntnisse und Erfahrungen in unseren Gesetze gleichsam eingefangen und lassen sie bis heute wirksam sein. Wir bauen weiterhin Autobahnen als ob es kein Morgen gäbe, der neue Bundesverkehrsplan ist voller neuer Anmeldungen von Straßenprojekten, selbst in Berlin wird weiter an der Stadtautobahn gebaut, die „Reichsgaragenordnung“ gilt – bis auf wenige Ausnahmen, immer noch. Die Fahrradfahrer sind ebenfalls noch auf Radwege eingezwängt, die Straße gehört immer noch dem Kraftfahrzeug. Die Entfernungspauschale existiert noch genauso wie das Dienstwagenprivileg. Was in 1957 begonnen und konsequent in die Steuergesetzgebung verankert wurde, ist bis heute aktuell: Wer kein Auto hat, ist selbst schuld!

Die Gesetzeslage muss sich ändern

Aber wie sähe ein Programm zur Verkehrswende aus? Mehr Rad, mehr Busse und Bahnen – in den Städten kein Problem. Aber auf dem Land oder in kleinen Städten? Vielleicht taugt ja hier eine Anleihe aus der Stromwende: Die Bürgergesellschaft packt selbst mit an: Wer sein eigenes Auto in ein E-Fahrzeug tauscht und mit einem Grünstromvertrag ausstattet, der kann sich auf der Plattform des öffentlichen Nahverkehrsanbieter anmelden und sagen: Heute bin ich auch ein Bus! Ich speise meine Transportkapazitäten ins öffentliche Nahverkehrsnetz ein.

Mit den digitalen Plattformen geht dies kinderleicht und zu dem Angebot von Bussen, Bahnen und Taxis gibt es jetzt noch das Bürgerauto, natürlich nur elektrisch und auch nur dann, wenn der örtliche Netzbetreiber, also der Busunternehmer es zulässt, aber doch höchst attraktiv. Einfach auf das Smartphone tippen und schauen, wer gerade Lust und Laune auf einen Transport hat. Warum soll der Busbetreiber Großgefäße vorhalten und zu Zeiten betreiben, wo kaum noch einer fährt? Das kann man ökonomisch und ökologisch schlauer machen, aber man ahnt es schon, nicht mit den Gesetzen aus den 1950er Jahren. Denn ein solches Angebot wäre nicht erlaubt. Wir sollten also darüber nachdenken, auch im Verkehr die Gesetze endlich einmal zu verändern und zu entstauben. Denn in der Verkehrspolitik ist noch das Schwarz-Weiß-Fernsehen das Maß der Dinge.

In ihrem Buch Schlaue Netze erläutern Andreas Knie und Weert Canzler, warum bei einer Umstellung auf 100 Prozent Erneuerbare Energien die Energiewende mit einer Verkehrswende Hand in Hand gehen muss.




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