Menü öffnen

Die Lüge vom Windstrom für den Süden

Hochspannungsleitung Trafo-Station Einspeisung Windstrom
(Pixabay / Free License)  

Kampf den Höchstspannungsleitungen, ob erdverkabelt oder nicht! In Bayern setzt sich mancherorts die Landbevölkerung stärker für eine dezentrale Energiewende ein, als die Grünen-Führung. Schon ist von einem „neuen Wackersdorf“ die Rede. Der Protest wird von Fachleuten von außerhalb Bayerns gestützt.

05.11.2015 – Die Bundesregierung hat Anfang Oktober nur etwas festgeklopft, was ein Koalitionsgipfel am 1. Juli beschlossen hatte. Der Beschluss zur weitgehenden Erdverkabelung der Stromtrassen nach Süddeutschland ist weiterhin unkonkret, die technische Umsetzung und die Kosten sind fragwürdig. Die Gegenseite hingegen fährt immer mehr Geschütze auf. Wieder eine neue Studie, wieder eine neue Bürgerinitiative.

Und ihre Argumente sind sehr gut. Ein zentrales Regierungsprojekt im Energiebereich erfährt in der bayerischen Provinz außergewöhnlich viel Widerstand – und dass da der Höhepunkt schon erreicht ist, darf angezweifelt werden. Bei diesem Kampf gegen den Bau zweier Höchstspannungsleitungen (der Fachbegriff lautet Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung, HGÜ) aus dem Norden und Osten in den Süden handelt es sich mittlerweile um einen außergewöhnlich starken Einsatz für die dezentrale Energiewende – einen Einsatz, der sogar die Grünen alt aussehen lässt. Besser gesagt: Er lässt sie neu aussehen.

So mahnte der kleine Grünen-Kreisverband Bayreuth-Land Ende April bei seiner Partei eine „ur-Grüne Energiepolitik“ an. Die Parteiführung in Land und Bund befürwortet die Trassen und wendet sich somit von ökologisch orientierten Bürgerinitiativen sowie dem traditionellen und wichtigen Partner BUND ab. An der Parteibasis in von neuen Trassen betroffenen Regionen führt das zu Unmut. In einem offenen Brief erklärte Bayreuth-Land, als Alternative zu einem weiteren Mitgliederverlust die Mitgliedsbeiträge nicht mehr an den Landesverband weiterzuleiten und die Mitgliedschaft „ruhen lassen“ zu wollen, was beides in der Parteisatzung nicht vorgesehen ist. „Wir gelangten nach einem Jahr des Wartens und der Überzeugungsarbeit gegenüber dem Landesverband zu der Ansicht, dass die Argumente nicht durchkommen“, erklärte Kreisvorstandssprecher Andreas von Heßberg damals die Eskalation, die nicht nur Partei-intern für Aufsehen gesorgt hat.

Stromversorgung gesichert

Die Argumente sind seitdem noch mehr geworden. Die Erzählung von der Notwendigkeit von Strom aus dem Norden für den industriereichen und bald um etliche Atomkraftwerke ärmeren Süden wirkt immer mehr wie eine Lügengeschichte.

Im Juni veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung einen zusammen mit der Technischen Universität Berlin erarbeiteten Forschungsbericht der festhält, „dass die Versorgungssicherheit Bayerns auch nach der Abschaltung der Atomkraftwerke 2022 nicht gefährdet ist, bettet sich der Freistaat doch sowohl in ein deutsches, grenzüberschreitendes als auch europaweites Stromsystem ein.“ Wer nun meint, dass da vielleicht schon der Bau der Höchstspannungsleitungen eingerechnet ist, kann ein paar Sätze später lesen: „Sowohl die benötigte Strommenge als auch die benötigte Leistung können durch unterschiedliche Maßnahmen sichergestellt werden, u.a. Kraftwerksneubau, Speicherentwicklung, Reduktion der Lastspitze, Teilversorgung im Verbund mit Österreich, etc.“

Ebenfalls im Juni hielt Wolf von Fabeck vom Deutschen Solarförderverein Aachen, früher an der Technikhochschule des Heeres lehrend, einen Vortrag im Landkreis Bayreuth, in dem er darlegte, dass der Windstrom im Norden kaum etwas mit der Versorgung des Südens zu tun haben kann. Seine Präsentation steht im Internet und wird immer wieder aktualisiert. Darin wird unter Bezug auf offizielle Daten argumentiert, dass Norddeutschland den dort produzierten Strom auf absehbare Zeit selbst brauchen wird und nur in wenigen windreichen Momenten etwas gen Süden abgeben wird. Dieselbe Position vertritt der Verein Eurosolar, der vom mittlerweile verstorbenen SPD-Bundestagsabgeordneten und Energiewende-Vordenker Hermann Scheer gegründet wurde. Er sieht die HGÜ-Trassen als unflexibel und den Großkraftwerken dienend an und befürwortet einen Leitungsneubau in kleinem Maßstab zur Vernetzung von Regionen sowie den Speicherausbau.

Ende Juli veröffentlichte Lorenz Jarass eine weitere Studie. Der Wirtschaftsprofessor der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden und seit Jahren prominente Kritiker der HGÜ-Trassen argumentiert in dem 70-seitigen Papier, dass der Netzentwicklungsplan der Bundesnetzagentur veraltet sei und „gravierende Defizite“ enthalte.

Weitere Argumente gegen die Trassen beziehen sich auf bestehende Leitungen, die erfolgreiche Forschung zu Energiespeichern, die Stärkung von großen Kraftwerken durch große Leitungen, die Atomkraftwerke im Ausland und den europaweiten Stromhandel sowie die Schädlichkeit von Windenergieanlagen im Meer im Vergleich zu denen an Land. Generell wird immer wieder betont, dass die Notwendigkeit der Trassen für die Energiewende nicht erwiesen sei. Misstrauen gibt es auch, weil bundesweit die überregionalen Stromnetze von nur vier Unternehmen betrieben werden, ein noch deutlicheres Oligopol als bei den vier großen Kraftwerksbetreibern. Den Netzbetreibern gesteht die Bundesnetzagentur für Neuanlagen eine Eigenkapitalrendite von neun Prozent zu. Zum Teil stehen von der Energiewende gebeutelte Energiekonzerne und von der allgemeinen Zinsflaute in Bedrängnis gebrachte Versicherungen und Rentenkassen hinter den Netzbetreibern, es geht also auch um Interessen des Großkapitals.

Kohlestrom statt Windstrom

„Der Protest wäre nicht so groß und würde nicht so lange anhalten, wenn an dem Argument 'Windstrom für den Süden' etwas dran wäre“, glaubt Dörte Hamann. „Die Befürchtung, dass es um Braunkohlestrom aus dem Osten geht, hat sich bewahrheitet.“ Hamann gehört der Bürgerinitiative (BI) Leinburg im mittelfränkischen Landkreis Nürnberger Land an und ist Sprecherin des Bündnisses gegen die Trasse aus Ostdeutschland. „Man wird vom Nimby zum bewussten Energiewendebefürworter“, ist ihre Erfahrung. Nimby steht für „Not in my backyard“, dem berühmten, oft aber auch nur unterstellten Phänomen, dass Leute ein Projekt vor allem deshalb ablehnen, weil es sie persönlich betrifft. Bei ihr im Nürnberger Land geht es auch anders, erklärt Hamann: Es gebe sogar CSU-Anhänger, die sich aus der eigenen Betroffenheit heraus mit dem Thema beschäftigt hätten und nun mit der Partei unglücklich seien.

Die seit 2013 wieder alleine regierende CSU hatte, als der Widerstand in Franken im Januar 2014 explodierte, schnell versichert, auf die Betroffenen zu hören. Seitdem blockierte sie auf Bundesebene den Bau der Trassen, dem die Landesregierung schon zugestimmt hatte. Am 1. Juli legte der Berliner Koalitionsgipfel Änderungen fest: Wo möglich, sollen die Leitungen unterirdisch oder an bestehenden Masten verlaufen, zudem soll die Ost-Süd-Trasse viel weiter östlich verlaufen. Das ist von den lokalen Details und der technischen Machbarkeit her noch sehr unklar und problematisch, aber die CSU präsentierte den Beschluss als Erfolg im Sinne der Protestierenden. Doch die sehen das anders.

Schon am 2. Juli veröffentlichten die bayerischen Initiativen gegen die Ost-Süd-Trasse eine Erklärung, in der sie sich „zutiefst enttäuscht“ vom Ergebnis des Koalitionsgipfels zeigen. Das Bündnis hält einen Grundsatz fest: „Die Bürgerinitiativen sind, vollkommen unabhängig vom Trassenverlauf, gegen die HGÜ-Leitungen, da sie als Teil der Europäischen Energieunion geplant sind, die Atomstrom als festen Bestandteil im Energiemix vorsieht.“ Die Regierungskoalition habe „auf ganzer Linie versagt“. Die erwünschte „Befriedung der Bevölkerung“ sei nicht erreicht, „das Gegenteil ist der Fall: Aufgrund der Gewissheit, dass die bayerische Landesregierung nicht länger auf Seiten der Trassengegner steht, sind wir höchst alarmiert und bereit für einen Kampf gegen die Süd-Ost-Trasse, der einen langen Atem erfordert.“ Bereits am 4. Juli schloss sich der Bundesverband der Bürgerinitiativen gegen Südlink, die andere große Trasse, die von Nordniedersachsen durch Hessen in den Süden führen soll, diesem Tenor an.

Der Berliner Beschluss habe zwar Partei-intern für „ideologische Unordnung“ gesorgt, weil er auch einzelne Parteimitglieder nicht überzeuge, glaubt Dörte Hamann. Von CSU und SPD erwartet sie aber dennoch nichts mehr. Die einzigen Parteien, die von Beginn an die Trassen kritisch gesehen haben, seien die Freien Wähler (FW) und die LINKE gewesen.

Dasselbe sagt Maria Estl von der BI "Steinwald sagt nein zur Monstertrasse" in der Oberpfalz, im Osten Bayerns. „Im November 2014 war ich bei einer Veranstaltung der Freien Wähler im Landtag, bei der es um Speichertechnologien ging“, berichtet Estl. Sie habe zwar nur die Hälfte verstanden, ein Politiker habe ihr aber auf die Sprünge helfen können. Gerade die Ergebnisse dieses Forschungsfeldes sind gute Argumente gegen Höchstspannungsleitungen über weite Strecken.

Und die Grünen?

„Die Grünen sind die große Enttäuschung“, sagt Dörte Hamann von der BI Leinburg. „Die Wut in der BI ist groß.“ Im benachbarten Altdorf, wo es ebenfalls eine Initiative gibt, seien die Grünen gegen die Trassen. Eine dortige Diskussionsveranstaltung mit dem Landtagsfraktionsvorsitzenden Ludwig Hartmann sei nach Aussage von Dabeigewesenen ein „Desaster“ geworden, die beiden Seiten hätten sich nicht angenähert.

„Am schmerzhaftesten“ ist für Hamann das persönliche Erlebnis, das sie in Sachen Konfrontation mit den Grünen hatte. 2014 habe sie an einer der üblichen Berlin-Reisen teilgenommen, die Bundestagsabgeordnete für Menschen aus ihrem Wahlkreis veranstalten. Beim Treffen mit dem (übrigens aus Bayern stammenden) Fraktionsvorsitzenden Anton Hofreiter wollte sie ihm eine Mappe mit trassenkritischen Informationen übergeben, woraufhin der „ausgerastet“ sei. Hofreiter habe sich „sehr daneben benommen“, berichtet Dörte Hamann, und geschimpft, Europa breche auseinander und manche Länder hätten eine verheerende Jugenderwerbslosigkeit, und nun kommen wieder diese Leute mit ihren Trassen. Hofreiters Wutanfall (inklusive entsprechendem Abgang) habe nicht nur die ganze Berlin-Fahrt überschattet, sondern sei Dank eines Handy-Mitschnitts auch bei den BI's vor Ort entsprechend aufgenommen worden.

Andreas Heßberg vom Grünen-Verband Bayreuth-Land fürchtet, dass sich die Partei zu sehr Industrie-Positionen annähert. Bemerkenswert ist nicht nur, dass die Freien Wähler, die gerade auf dem Land oft die härteste CSU-Konkurrenz sind, da eine ganz andere Figur machen. Auch in anderen Gefilden ergibt sich eine seltsame Gegenüberstellung. So veröffentlichte die FAZ Anfang Juli eine lange Reportage über den Kampf um die Trasse Südlink von Niedersachsen bis Schwaben. Dort kommt auch der Bürgerreferent des Netzbetreibers und -bauers Tennet zu Wort, der sich um die lokalen Dialogveranstaltungen kümmert. Seine Erfahrung ist laut FAZ-Zusammenfassung, dass „Christliche und Sozialdemokraten gleichermaßen gegen den Südlink seien, wenn es im Landkreis, in der Stadt und im Dorf konkret werde. Besser laufe es, wo die Politik grün gefärbt sei und wo sie die Planung unterstütze.“

In Bayern ergibt sich ein anderes Bild. Maria Estl von der BI Steinwald berichtet von Unterstützung durch die lokalen Grünen. In ihrem Landkreis wurde soeben eine neue BI gegen die Süd-Ost-Trasse gegründet, kurz davor auch im benachbarten Landkreis Neustadt an der Waldnaab. An letzterer beteiligt ist die Kreis- und Gemeinderätin Sonja Reichold von den Grünen. Auch sie berichtet von einem kollektiven Treffen mit dem Landtagsfraktionsvorsitzenden Hartmann. Dennoch: „Die Basis ist geschlossen gegen die Trassen.“ Hier in der Oberpfalz formiert sich der Widerstand erst jetzt, weil die Gegend erst seit dem Koalitionsbeschluss vom 1. Juli so richtig betroffen ist. Seitdem soll die Süd-Ost-Trasse statt in Bayerisch-Schwaben in Niederbayern enden, bei Landshut. Dafür müsste sie durch die Oberpfalz verlaufen.

Der neue Streckenverlauf hat nicht nur beispielsweise den FW-Landrat des betroffenen niederbayerischen Landkreises Kelheim auf die Barrikaden gebracht. Selbst ein Vizevorsitzender der Jungen Union Oberpfalz sagte Ende Juli, vor dem Bau neuer Trassen sollten die Möglichkeiten der lokalen Energieerzeugung genutzt werden. Das ist umso bemerkenswerter, als in der Oberpfalz die von der CSU ohnehin kräftig behinderte Windkraft auf viel Gegenbewegung stößt.

Alte Wunden reißen wieder auf

Trassengegner und -befürworter werden nun verstärkt in der Oberpfalz aktiv, um Leute zu gewinnen. In Sachen Energie-Großprojekte ist das eine heikle Gegend. In den 1980ern brannte sich hier der Name Wackersdorf in die bundesdeutsche Geschichte ein. Der Bau von Deutschlands zentraler Wiederaufbereitungsanlage (WAA) für AKW-Brennstäbe wurde hier erst nach jahrelangem Tauziehen und heftigen Schlachten mit der Polizei abgeblasen.

Im Juni, also noch vor dem Koalitionsgipfel in Sachen Energie, sendete der Deutschlandfunk einen Hintergrundbericht über den Kampf um die Stromtrassen in Bayern. Darin sagt der CSU-Landtagsfraktionsvorsitzende Thomas Kreuzer, „dass eine Trasse nur dann gebaut werden kann, wenn man den Menschen absolut nachweist, dass es notwendig ist. So wie sich diese Firmen das vorstellen, geht es nicht. Sonst werden wir einen derartigen Widerstand bekommen, dass überhaupt nichts gebaut wird, weil wir vor Gerichtsverfahren stehen und sich Widerstand wie in Wackersdorf regen kann.“ Androhungen eines „neuen Wackersdorfs“ hatte es laut dem Bericht schon gegeben. Was ist von solchen Ankündigungen zu halten?

„Die Menschen haben nicht vergessen, wie man damals mit ihnen umgegangen ist“, sagt Hilde Lindner-Hausner. „Es hat sich auch nie jemand entschuldigt.“ Lindner-Hausner gehört der Bürgerinitiative an, die 1982 gegen die WAA gegründet wurde. Damals wurde die Oberpfalz zum Wendland Bayerns. Hier wie dort sollte eine ländliche Gegend den radioaktiven Müll aufnehmen, ohne dass sie vorher gefragt wurde. Die Diffamierung des breiten Widerstands und die krasse Polizeigewalt kamen noch oben drauf. „Die großen Stromtrassen bremsen die dezentrale Energiewende“, glaubt auch Lindner-Hausner. Sie warnt davor, wieder Politik über die Köpfe der Leute hinweg zu machen, sie gar für die Trasse zu enteignen. Gelegentlich höre sie Äußerungen, die mit „Wenn das so weitergeht“ beginnen, und mit „Wackersdorf“ enden.

Klage bei der UNO

Wenn die Trassen weder in Bayern, noch in Berlin gestoppt werden können, werden sie das womöglich von Genf aus. Demnächst soll dort bei der UNO eine Klage auf Grundlage der Aarhus-Konvention eingereicht werden. Dieses völkerrechtlich verbindliche und von so ziemlich allen EU-Staaten sowie der EU selbst ratifizierte Abkommen spricht der Zivilgesellschaft Information und verbindliche Partizipation bei Projekten mit Umweltauswirkungen zu. Die EU hat das aber nach Ansicht der Klägerin Brigitte Artmann nie umgesetzt, weswegen alle strategischen Umweltprüfungen auch in Deutschland ungesetzlich seien. Das betrifft neben dem deutschen Hochspannungsnetz auch Fracking, die Endlagersuche für den AKW-Müll und andere Großprojekte mit ökologischer Auswirkung. Auch dieser Angriff auf die Trassen kommt aus der bayerischen Provinz. Brigitte Artmann ist die Vorsitzende des oberfränkischen Grünen-Kreisverbands Wunsiedel. Ralf Hutter


energiezukunft