Flexibler werden: Stromnetz mit Lücken und Tücken
Deutschlands Stromnetz ist noch nicht ausreichend auf die zunehmende Einspeisung
fluktuierender Erneuerbarer Energien vorbereitet. Netzbetreiber, Verbände, Unternehmen
und die Politik arbeiten mit Hochdruck an Lösungen.
04.11.2024 – Quer durch Deutschland und Europa fließt der Strom, oder mal eben um die Ecke ins nächste Haus. Immer aber braucht es Netze, die die elektrische Energie mit niedriger, mittlerer oder hoher Spannung durch Orte und Landschaften transportieren. Involviert in diese kritische Infrastruktur sind eine Vielzahl von Unternehmen und Personen, von den Erzeugern und Einspeisern der Energie, über die regionalen Verteilnetzbetreiber, hin zu den großen Übertragungsnetzbetreibern und wieder zurück zu regionalen und lokalen Netzverantwortlichen bis zu Abnehmern des Stroms.
Nicht zu vergessen die politischen Akteure, die Gesetze und Regularien an die neuen Gegebenheiten eines sich verändernden Energiesystems anpassen müssen. Denn die zunehmende und fluktuierende Leistung Erneuerbarer Energien im Netz bedeutet einen Abschied von der alten Energiewelt, in der fossile Kraftwerke geregelte und immer gleiche Energie ins Netz einspeisen, aber Klima und Umwelt schädigen.
Teil der neuen Energiewelt ist Johannes Jörling. Er ist verantwortlich für den Netzanschluss der Erneuerbaren-Energien-Anlagen der NaturStromProjekte GmbH, einer Tochter der naturstrom AG. Jörling steht damit am Anfang – dort, wo der Strom ins Netz eingespeist wird. Er steht im engen Austausch mit den regionalen Verteilnetzbetreibern, die zum einen für die Anschlüsse der Energieanlagen ans Netz verantwortlich sind, und zum anderen für die Verteilung des Stroms an die Verbraucher. Sie haben damit die Hoheit über die vielen Netze mit niedriger, mittlerer und hoher Spannung. Netze mit Höchstspannung dagegen liegen in der Hoheit der großen Übertragungsnetzbetreiber, die Strom quer durch Deutschland schicken. Doch dazu später mehr.
Es gilt, seine Hausaufgaben zu machen
Johannes Jörling, NaturStromProjekte GmbH
Für Jörling sind Anträge das Kerngeschäft seiner Arbeit – von einer unverbindlichen zu einer verbindlichen Netzauskunft, gleichbedeutend mit einer Reservierung des Anschlusses, bis hin zur Beantragung der Inbetriebnahme. „Dabei gilt es, stets seine Hausaufgaben zu machen“, so Jörling. Alle technischen Details müssen gut vorbereitet und von Experten abgenommen werden. Entscheidende Fragen sind Leistungsumfang der Wind und PV-Anlagen, sowie Verfügbarkeit verschiedener Anschlusspunkte ans Netz. „Sobald wir wissen, wo und mit welcher Leistung wir die Anlagen planen, stellen wir an den zuständigen Verteilnetzbetreiber eine Netzanschlussfrage. Bis zu 20 Megawatt Leistung können meist noch direkt an ein Mittelspannungsnetz angeschlossen werden. Darüber muss die Anlage ans Hochspannungsnetz ran, und dafür braucht es ein Umspannwerk.“ Das kostet extra und ist mit zusätzlichen Bauanträgen verbunden.
Immerhin müssen naturstrom und andere Projektierer nicht mehr ewig auf Antworten der Netzbetreiber warten. Seit der Novelle des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG) 2023 sind die Betreiber verpflichtet, innerhalb von acht Wochen Informationen zum sogenannten Anschlussbegehren zur Verfügung zu stellen. „Viele halten diese Frist inzwischen tatsächlich ein“, so Jörling. Positiv hebt er das SH Netz in Schleswig-Holstein hervor. „Die scheinen erheblich an Personal aufgestockt zu haben, reagieren sehr schnell auf Anfragen, und kommen teilweise von sich auf uns zu. Im Gegensatz zu anderen Netzbetreibern sind sie auch schon sehr weit beim Aufbau weiterer Netzknotenpunkte und diverser Umspannwerke, um die Energieerzeugung in Schleswig-Holstein umfassend einzuhegen.“ In der aktuell laufenden Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) plant die Bundesregierung sogar eine grundsätzliche Auskunftspflicht der Netzbetreiber festzuschreiben.
Ungenutzte Potenziale erschließen
Es sind kleine Neuerungen in der Energiewirtschaft, mit denen die Ampel-Koalition mehr Tempo in den Ausbau Erneuerbarer Energien bringt. Aber die Liste an Aufgaben ist weiter groß. Im aktuellen Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums zur Novelle des EnWG erstmals genannt wird die sogenannte Überbauung von Netzanschlüssen. Ein Erfolg der Erneuerbaren Branche. In einer Studie vom April dieses Jahres zeigte der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) gemeinsam mit dem Fraunhofer Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (IEE) auf, wie an Netzanschlusspunkte ohne Probleme mehr Leistung angeschlossen werden könnte als der Punkt theoretisch transportieren kann. Denn praktisch erzeugen Wind- und Photovoltaik-Anlagen selten 100 Prozent der möglichen Strommenge gleichzeitig.
Im Durchschnitt nutzen Photovoltaik-Anlagen übers Jahr die Kapazität ihres Netzanschlusspunktes zu 13 Prozent, Windenergie-Anlagen zu 33 Prozent. „Es braucht nur zwei kleine Änderungen an Paragraphen des EEG, und eine Überbauung der Netzverknüpfungspunkte wäre rechtlich wirksam“, sagt Matthias Stark, einer der Autoren der Studie und Leiter des Fachbereichs Erneuerbare Energiesysteme beim BEE. „Es ist eine super Idee, Solar- und Windanschlüsse zu kombinieren. In der Tat, man fragt sich da, warum gibt es das nicht längst?“, sagte der Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, im April im Tagesspiegel. Auch naturstrom-Netzexperte Jörling sieht den Vorstoß positiv. „Wir haben ausgerechnet, dass eine zu hohe Leistungserzeugung von Wind und Solar im Verbund über das Jahr verteilt nur sehr selten vorkommt. Wir reden von drei bis vier Prozent der Zeit, in der die Anlagenbetreiber die Überkapazitäten abregeln müssten. Da wir aber sonst deutlich mehr einspeisen können, ist es eine Win-Win Situation für alle.“
Um eines der grundsätzlichen Probleme anzupacken, fordert Stark zudem eine Umstellung von einer Zeit- auf eine Mengenförderung Erneuerbarer Energien-Anlagen. Wind- und Solarparks würden dann nicht mehr über 20 Jahre, sondern anhand einer bestimmten Menge gefördert werden, die sie ins Netz einspeisen. Das würde die Erzeuger selbst dazu bewegen, ihre Einspeisung flexibel zu gestalten und ihre Anlagen bei einem Überangebot zu drosseln, weil sie in anderen Zeiten stärker profitieren. Dem Problem negativer Strompreise könnte so entgegengewirkt werden. Laut aktuellen Referentenentwurf des EnWG können Erneuerbare Anlagen Betreiber zumindest darauf hoffen nach 20 Jahren nicht mehr durch Abregelung und negative Strompreise ausgefallen Zeit nachzuholen, sondern Mengen. Ein Kabinettsbeschluss zum EnWG wird zeitnah im November erwartet.
Die Verantwortlichen der großen Stromautobahnen
Weil das Netz aktuell noch nicht in ausreichendem Maße auf die fluktuierende Einspeisung Erneuerbarer Energien eingestellt und weil das Angebot Erneuerbarer noch sehr ungleich verteilt ist, muss gerade im Norden Deutschlands der Strom aus Windkraft häufig abgeregelt werden. Hier fehlt es, neben den Speichern vor Ort, vor allem an den großen Stromautobahnen von Nord nach Süd. Für den Bau dieser unter Höchstspannung stehenden Stromleitungen sind die vier großen Übertragungsnetzbetreiber im Land – 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW – verantwortlich. Im Westen Deutschlands betreibt Amprion ein Höchstspannungsnetz von rund 11.000 Kilometern, von der Nordsee bis zu den Alpen, mit Schwerpunkten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland. 6.800 Kilometer an Stromleitungen will Amprion in den kommenden Jahren neu- oder ausbauen.
Festgelegt von der damaligen Bundesregierung aus CDU/ CSU und SPD, gilt seit 2016 ein Vorrang für Erdkabel bei Gleichstromverbindungen, die Strom über weite Strecken transportieren. Darauf gedrängt hatte vor allem das CSUgeführte Bayern. Argumentiert wurde mit fehlender Akzeptanz für den Ausbau von Freileitungen. Inzwischen macht die Union aber eine Rolle rückwärts. In einem im Juni eingebrachten Antrag im Bundestag fordert sie, wieder vermehrt auf Freileitungen zu setzen – aus Kostengründen. Die Bundesnetzagentur beziffert die Einsparungen beim Verzicht auf Erdkabel auf rund 35,3 Milliarden Euro bis 2045.
Doch die NRW-Landesregierung, also dort wo Amprion baut, erteilte der Forderung umgehend eine Absage. In einem dicht besiedelten Industrieland wie NRW trügen Erdkabel entscheidend zur Akzeptanz bei, so die Grüne Wirtschaftsministerin des Landes Mona Neubaur im WDR. Zudem würden sich zahlreiche Netzausbau-Projekte bereits im Genehmigungsprozess befinden. Eine Abkehr von Erdkabeln würde hier erheblich Zeit und am Ende auch Geld kosten, die durch Freileitungen nicht eingespart würden.
Mit dem Ausbau des Netzes selbst ist es aber für Amprion und die anderen großen Übertragungsnetzbetreiber nicht getan. „Zusätzlich zum Netzausbau benötigen wir eine Vielzahl von Anlagen, die Spannung und Frequenz im Stromnetz regeln“, teilt Amprion-Pressesprecherin Joana Niggemann mit. In der alten Welt haben fossile Kraftwerke diese sogenannten Systemdienstleistungen erbracht. Je mehr von ihnen vom Netz gehen, desto mehr Kompensationsanlagen für die Stabilität des Stromnetzes müssen gebaut werden. Es geht um mechanische und elektronische Anlagen, die im Zuge vermehrter Einspeisung fluktuierender Erneuerbarer Energien das Netz stabilisieren. Denn Strom muss konstant mit einer Frequenz von 50 Hertz durch das Netz fließen, andernfalls droht eine Überlastung.
In der Netzleitwarte von Amprion in Köln-Brauweiler arbeiten Ingenieure jeden Tag daran, das Stromnetz stabil zu halten – und das aufgrund der zentralen Lage der Leitwarte für 500 Millionen Menschen in Deutschland und Kontinentaleuropa. Denn Deutschland ist eingebettet in das europäische Stromnetz – das größte elektrische Verbundsystem der Welt. „In Brauweiler setzt Amprion sowohl auf moderne Technologien als auch auf das Fachwissen der Mitarbeitenden. Überwachung und Koordination der Stromflüsse geschehen in Echtzeit, wobei auch KI-gestützte Wetter-Prognosen zur Erstellung von Day-Ahead und DayAfter Analysen entwickelt werden. Dies ermöglicht eine fundierte Entscheidung über die Systembilanz in Echtzeit“, sagt Niggemann.
Um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, wird sich der Transportbedarf im Übertragungsnetz bis zum Jahr 2045 voraussichtlich verdreifachen. In der alten Welt speisten fossile Kraftwerke Wechselstrom ins Netz, da sie sich in unmittelbarer Nähe der Verbrauchszentren befanden und der Strom nicht über weite Strecken transportiert werden musste. Denn die lokalen Netze und Steckdosen in den Häusern übertragen Wechselstrom. Darauf sind noch viele Übertragungsnetze ausgelegt.
Dabei lässt sich Gleichstrom effizienter, mit weniger Übertragungsverlusten, über weite Strecken transportieren. Die neuen Leitungen von Nord nach Süd (und umgekehrt) sollen daher Gleichstromleitungen werden. Amprion muss deshalb mit dem Netzausbau für die Erneuerbare Welt zahlreiche neue Konverter mitdenken, die Gleichstrom in Wechselstrom umwandeln, während bei der Übertragung über existierende Wechselstromleitungen der umgekehrte Weg mitgedacht werden muss. Beim Wechselstrom ändert sich die Flussrichtung des Stroms im regelmäßigen Rhythmus, beim Gleichstrom fließt dieser gleichmäßig in eine Richtung. Dieselbe Art von Strom, die unsere Computer und Fernseher brauchen und deshalb den Strom aus der Steckdose wieder umwandeln, während Kühlschrank oder Herd Wechselstrom nutzen.
Nutzen statt Abregeln 2.0
Ab Herbst dieses Jahres sind Amprion und die anderen Übertragungsnetzbetreiber zudem verpflichtet, die Regelung „Nutzen statt Abregeln 2.0“ in einer zweijährigen Erprobungsphase umzusetzen. Von der Bundesregierung Ende 2023 im EnWG festgeschrieben und von der Bundesnetzagentur ausgestaltet, soll die Regelung dafür sorgen, dass weniger Erneuerbare Energien bei Netzengpässen abgeregelt, sondern Anreize geschaffen werden, den Strom in der Region nutzbar zu machen.
Dafür sollen die Übertragungsnetzbetreiber in den kommenden zwei Jahren per Zuteilung netzgekoppelte Speicher, Großwärmepumpen und Elektrolyseure für die Produktion von Wasserstoff in ihren Zuständigkeitsbereichen ans Netz bringen. Danach soll es wettbewerbliche Ausschreibungen geben. „Damit bereiten wir den Weg, dass erneuerbarer Strom genutzt werden kann, der ansonsten abgeregelt würde. Dieses Instrument ist wichtig, aber kein Ersatz für einen möglichst schnellen und bedarfsgerechten Netzausbau“, sagt Bundesnetzagentur-Präsident Müller. Der Bundesverband Erneuerbare Energien befürchtet, dass Vorgaben und Einschränkungen in Bezug auf die Anlagen und Zeitumfang zu eng gefasst sind. Der BEE bezweifelt, dass in den kommenden zwei Jahren genügend Anlagen entstehen. „Gerade in der Anfangsphase gilt es einfach mal auszuprobieren, zur Not auch Fehler zu machen und aus diesen zu lernen, anstatt von vornherein den Markt zurückzudrängen“, sagt BEE-Energieexperte Stark.
Wie zwei Bergsteigerinnen, die mit einem Seil miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig vor Abstürzen schützen
Matthias Stark, BEE-Energieexperte
Positiv hingegen sieht Stark die Festlegung der Bundesnetzagentur, ab 2025 finanzielle Lasten in den Netzentgelten umzuverteilen. Bislang sind Bürger in Regionen mit hohem Ausbau Erneuerbarer Energien mit höheren Netzentgelten belastet, weil die lokalen Netzbetreiber dort das Netz in stärkerem Maße ausbauen müssen und die Kosten dafür auf die lokale Bevölkerung umwälzen. Diese Netzbetreiber erhalten künftig einen finanziellen Ausgleich, der über alle Stromkunden deutschlandweit verteilt wird. Für einige Menschen werden die Netzentgelte daher steigen, für die Menschen in den Energiewende-Vorreiter-Regionen aber fallen. Für die Industrie und private Haushalte gibt es zudem Vorschläge und Erprobungsphasen dynamischer Netzentgelte und Strompreise, so dass auch diese ihren Verbrauch flexibel dem Angebot anpassen können.
Die Bürger als Erzeuger und Nutzer fördern
Doch warum Strom über hunderte Kilometer von Nord nach Süd schicken? Netzentlastend kann auch die von vielen Akteuren forcierte, dezentrale Energiewende wirken. Für Privaterzeuger von Solarstrom – Stichwort Balkonkraftwerke – gab es zuletzt wesentliche regulatorische Vereinfachungen. Dasselbe gilt für Mieterstrom – dem Betrieb von Solaranlagen für ein Mehrfamilienhaus. In der laufenden Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes erwähnt, aber noch nicht umgesetzt, ist das sogenannte Energy Sharing in Deutschland. Es geht darum, Energie nicht nur gemeinschaftlich zu erzeugen, sondern auch zu nutzen.
Um das grundsätzliche Problem im aktuellen Energiesystem zu verdeutlichen, zeichnet Matthias Stark das Bild zweier Bergsteigerinnen: „Die eine heißt Erneuerbare Energien, die andere Flexibilität. Die beiden sind mit einem Seil verknüpft und sichern sich gegenseitig. Das bedeutet aber auch: Nur gemeinsam erreichen sie den Gipfel, keine kann vorauseilen. Aktuell sind die Erneuerbaren Energien weiter oben am Hang, das Seil ist stark gespannt. Deshalb muss die Flexibilität jetzt dringend aufholen, damit der Aufstieg ungehindert weiter gehen kann.“ Manuel Grisard
Dies ist ein aktualisierter Artikel aus der neuen Print-Ausgabe der energiezukunft: Flexibler werden! – Erneuerbare Energien nutzen statt abregeln
Kommentare
Hannes Allabauer vor 3 Wochen
Was hier fehlt, ist die Ersparnis von Netzausbau durch verbrauchernahe Stromspeicher („Batterien“). Wasserstoff wäre ein teurer Umweg.