Wärmewende: Seethermie – wer hat’s erfunden?

In der Schweiz nutzen viele Uferstädte die Energie aus ihren Seen, um Anwohner mit Wärme zu versorgen. Was dort funktioniert, kann am Bodensee nicht falsch sein, finden zahlreiche Akteure im Dreiländereck und planen nun ähnliche Projekte.
27.10.2025 – Wie, eine Wärmepumpe? Wer bei Horst Böttinger-Thyssen, Ortsvorsteher des Konstanzer Ortsteils Dingelsdorf am westlichen Bodensee, auf den Hof fährt, dem fällt sofort die Außeneinheit der Heizungsanlage neben der Einfahrt ins Auge. Und man fragt sich: Dieses Gebäude soll nun Wärmeenergie aus dem Bodensee beziehen, es ist doch bereits mit moderner, regenerativer Technik ausgestattet? Ja, soll es. Denn: „Aktuell haben wir noch eine Gashybridheizung“, erklärt Böttinger-Thyssen. Wärmepumpe und Erdgas also.
Erstere bleibt, letzteres soll verschwinden: Jährlich 2.800 bis 3.200 Kubikmeter Gas spart er ein, wenn das geplante Seethermie-Projekt an den Start geht. 2027 wird das voraussichtlich sein. Dann werden die 400 Quadratmeter seines früheren Bauernhofs, verteilt auf fünf, teils vermietete Wohneinheiten, komplett regenerativ versorgt. Und nicht nur die. Wärmelieferverträge mit fast 400 weiteren Abnehmern in Dingelsdorf und im benachbarten Wallhausen sind bereits unterschrieben.
Ortstermin beim Ortsvorsteher: Zu Besuch ist Bene Müller, Gründer und Chef des Projektentwicklers Solarcomplex mit Sitz in Singen am Hohentwiel. Er erklärt den Stand der Dinge beim 25 Millionen Euro schweren Vorhaben, klimafreundliche Wärme für beide Orte aus dem Seewasser zu holen. Aktuell im Fokus: ein Förderbescheid, auf den alle warten, vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Gibt es grünes Licht für einen Zuschuss aus dem BEW (Bundesförderprogramm effiziente Wärmenetze), kann Müllers Unternehmen mit dem Bau der Heizzentrale loslegen.
Für das Projekt ist er bereits einen weiten Weg gegangen: Mit der zuständigen Kommune, der Stadt Konstanz, wurde eine Wegenutzung vereinbart (um die Leitungen verlegen zu dürfen), Anwohner (zugleich mögliche Kunden) sind per Infoveranstaltung unterrichtet worden, Genehmigungsanträge wurden gestellt, und die Stadt Konstanz hat ein Bebauungsplan-Verfahren gestartet – für einen Solarpark. Denn die Heizzentrale mit Wärmetauscher, Wärmepumpen und Warmwasserspeicher braucht sauberen Strom.
Mit einem Kuli kringelt Müller auf einer Karte das Haus von Böttinger-Thyssen ein. Es liegt am südlichen Ortsausgang – und damit relativ weit entfernt von der Heizzentrale, die auf dem Gelände eines früheren Sportplatzes entstehen wird, direkt neben dem beliebten Campingplatz Klausenhorn. Dass er dies gefunden hat, sei ein Glücksfall, erklärt Müller und meint vor allem die Lage – mittig zwischen den beiden Orten, die künftig mit Seewärme beliefert werden – und, ganz wichtig, in direkter Nähe zum Ufer. Zudem: Das Areal ist eine der wenigen kommunalen Flächen. Denn nur die kamen in Frage – angesichts der Kaufpreise, die Privatleute für attraktive Badeort-Grundstücke sicher aufgerufen hätten.
Dingelsdorf und Wallhausen liegen am Nordufer des Bodanrück. Wir drehen eine Runde um den See – und siehe da: Fast überall plant man ähnliche Projekte. So hat ein Schweizer Ingenieurbüro für die Stadtwerke Radolfzell errechnet, dass künftig 80 Prozent des Gesamtwärmebedarfs der Stadt über eine Seewasser-Heizzentrale abgedeckt werden können. Prognostizierte Gesamtleistung: rund 32 Megawatt thermisch. Zur Wärmewende hinzu kommt ein kleineres Wärmeprojekt, mit dem die Stadtwerke Abwasser aus einer Kläranlage nutzen, Leistung: 5 MWth. Der Baubeginn ist für 2026 vorgesehen. Das Seethermieprojekt dagegen muss erst geplant werden und wird sich zeitlich anschließen.
Stadtwerke Konstanz kombinieren verschiedene Wärmequellen
Einen Mix aus diversen Quellen wollen auch die Stadtwerke Konstanz für die künftige Wärmeversorgung nutzen. Neben der städtischen Kläranlage und einer elf Kilometer Luftlinie entfernten Müllverwertungsanlage auf Schweizer Seite zählt dazu eben auch Energie aus dem See. Der „Wärmeverbund Bodenseetherme“ soll das beliebte gleichnamige Schwimmbad am Seeufer, eine Klinik und ein Seniorenwohnheim, zudem weitere Gebäude versorgen. Das gesamte Gebiet hat einen Wärmebedarf von etwa 14 Gigawattstunden (GWh). 20 Millionen Euro fließen in das Vorhaben, für dessen Realisierung eigens eine Projektgesellschaft mit der Saarbrückener Iqony Energies GmbH gegründet werden soll. Baubeginn ist, wenn alles gut läuft, 2028.
So werden die Lasten auf mehrere Schultern verteilt: Das ist auch am Nordufer, in Meersburg, die Devise. Hier kooperiert die Stadt mit dem Energieversorger Stadtwerk am See und spricht per Website und Newsletter interessierte Kunden an.
Bregenz nutzt See-Energie für Freizeit und Kultur
Bereits umgesetzt ist ein Seewärmeprojekt auf Österreicher Seite. In Bregenz werden das Seebad und das Festspielhaus seit März 2025 mit dieser Technologie versorgt. Eine 600 Meter lange Leitung führt hier das Wasser vor der Haustür Richtung Heizzentrale und Wärmetauscher. Zehn Millionen Euro hat das Projekt gekostet, und es geht weiter: Bis Ende 2027 soll das Energienetz Richtung Bregenzer Innenstadt ausgeweitet werden.
Seewärme-Pionier Schweiz
Spannend ist der Blick ins andere Nachbarland: Seewärme zu nutzen, ist in der Schweiz eine seit Jahrzehnten erprobte Technologie. Aufgereiht wie an einer Perlenkette sind die Projekte an den Ufern des Lago Maggiore oder am Genfer See, dem Vierwaldstättersee bis hin zum Zürichsee. Hier gibt es aktuell 30 Wärmenetze mit insgesamt 169,3 Megawatt installierter Leistung zur Seewassernutzung, eindrucksvoll zu sehen auf einer Karte vom Wasserforschungsinstitut Eawag: https://thermdis.eawag.ch/de/map-installations.

Die Grafik zeigt beispielhaft, wie ein Gewässer thermisch genutzt werden kann. In beiden Kreisläufen zirkuliert das Wasser. Zunächst wird ein Industrieprozess per Wärmetauscher gekühlt und über eine Wärmepumpe anschließend ein Haus geheizt. Das Rückgabewasser wird kälter in den See entlassen als das Wasser, das zuvor entnommen wurde. (Grafik: © Eawag)
Der Bodensee hinkt hinterher, weil hier lange Zeit eine Einschränkung durch die Internationale Gewässerschutzkommission (IGKB) galt. Erst 2014 hat das Gremium die thermische Nutzung zugelassen, verbunden mit der strengen Vorgabe, dass der See in Sachen Ökologie und Trinkwasserentnahme nicht beeinträchtigt wird.
Professor Wüest von der Eawag nennt weitere Gründe für den Vorsprung der Schweizer. Da ist zum einen die Limitiertheit der eigenen Rohstoffe. Die Schweiz hat Berge, aber keine Kohle-, Öl- und Gasvorkommen. „Da wir historisch schon immer fossil sehr abhängig waren, ist die Offenheit für dieses Thema in der Schweiz groß.“ Hinzu kommt: „Was die Seenutzung betrifft, haben wir das Privileg, viele große und tiefe Seen in der Nähe großer Agglomerationen zu haben: Zürich, Luzern, Zug, Biel, Neuchâtel, Thun, Genf“, zählt der Experte auf. Große Städte am Ufer, das heißt: Die Energie muss nicht über lange Distanzen zum Abnehmer transportiert werden.
Zuständig für den Bodensee auf Schweizer Seite ist die EKT AG (Elektrizitätswerk des Kantons Thurgau). Bereichsleiter Marcel Stofer berichtet, dass Wärme aus See- und Rheinwasser laut einer Studie des Kantons etwa 10 Prozent des fossilen Wärmebedarfs im Thurgau ersetzen könnte. Das entspricht rund 280 Gigawattstunden (GWh).
Besonders weit gediehen ist das Projekt im kleinen Ort Gottlieben, einen Steinwurf von Konstanz entfernt. Bau- und Konzessionsgesuche sind bei der Kantonsverwaltung eingereicht. „Wir rechnen mit der Bewilligung bis Herbst 2025“, berichtet Stofer. „Baustart soll noch in diesem Jahr sein. Wenn alles nach Plan verläuft, erfolgt die erste Wärmelieferung im Spätherbst 2026.“ Mehr als 250 Haushalte könnten dann versorgt werden. Engagiert ist sein Unternehmen zudem in mehreren Projekten zwischen Steckborn und Romanshorn.
Ökologische Auswirkungen im Fokus
So vielversprechend die Vorhaben klingen, so hartnäckig halten sich Fragen nach einer möglichen Achillesferse der Seethermienutzung – beispielsweise ökologischen Auswirkungen. Allerdings macht dem Temperaturhaushalt im See nur der Klimawandel zu schaffen, und die Wasserkreisläufe (Seewasser und Heizungswasser), versichert Bene Müller, kommen physisch nicht miteinander in Kontakt.
Als problematischer könnte sich die schnelle Ausbreitung der Quagga-Muschel erweisen. Die Muschelart, eingeschleppt aus dem Schwarzmeerraum, verstopft mit Vorliebe Rohre und Leitungen, ist also auch für die Wasserversorgung ein ernstzunehmendes Thema. Und: „Eine große Herausforderung in all diesen Projekten ist das Erreichen der erwarteten Wirtschaftlichkeit“, sagt Stofer. „Es sind große Vorinvestitionen zu tätigen, die finanziert werden müssen.“ Für Bene Müller ein alltägliches Geschäft: Sein Unternehmen geht mit der Erfahrung aus rund 20 in Südbaden umgesetzten Nahwärmenetzen ans Werk.
Zurück also nach Dingelsdorf und Wallhausen: Kommt der Förderbescheid, auf den alle warten, rollen demnächst die Bagger. 16,5 Kilometer Rohrleitung wird für das Wärmenetz in den Boden gelegt, verbunden mit sechs Stahltanks als Wärmespeicher am Standort der Heizzentrale. Fassungsvermögen: insgesamt 600.000 Liter. 80 Grad Celsius wird das Wasser haben, wenn es künftig beim Abnehmer ankommt.
Für die sind Öltanks und Gasanschluss dann obsolet, ebenso – und das ist in puncto Wirtschaftlichkeit vielleicht das Hauptargument – die Abhängigkeit von der Preisentwicklung bei Öl und Gas. Diese Variable fällt weg, auch für das Bauernhaus von Horst Böttinger-Thyssen, das von 1984 bis 2021 per Ölheizung, danach mit Gas und über eine Wärmepumpe beheizt wurde. Eine Metamorphose Richtung Klimaschutz.
Großes Potenzial an Rhein und Elbe
Letzte Frage an Professor Wüest: Kommen andere deutsche Seen für die Technologie in Frage, etwa im Sauerland oder in Mecklenburg-Vorpommern? „Im Prinzip ja“, erklärt Wüest. „Doch dies alles ist eine Frage des Seevolumens und der Besiedlungsdichte.“ Beides müsse zueinander passen, und zwar in vernünftiger Distanz der Energiequelle zu relevanten Wärmeabnehmern. Und die liegen eher woanders, in den großen Städten. Wüest: „Ich sehe in Deutschland das größte Potenzial an den mächtigen Flüssen wie Rhein und Elbe.“ Benedict Brüne
Die Reportage ist Teil des aktuellen Fachmagazins der energiezukunft: Kraftakt Wärmewende - vom Plan in die Praxis























































