Forschungszentrum Jülich: Ausbaurate für Erneuerbare in Europa um Faktor 5 steigern
Chancen und Potenziale eines europäischen Energieverbunds mit erneuerbarem Strom und grünem Wasserstoff stehen im Mittelpunkt einer Studie des Forschungszentrums Jülich. Synthetische Kraftstoffe spielen dabei eine wichtige Rolle, Atomkraft nicht.
01.11.2024 - Erstmals haben Forscherinnen und Forscher der Jülicher Systemanalyse in ihrer Studie zur Europäischen Energiewende auch den Dekarbonisierungsbedarf des Flug- und Schiffsverkehrs einbezogen, um in Europa bis 2050 entsprechend dem Green Deal Treibhausgasneutralität zu erreichen. Entsprechend ist der Bedarf an grünem Wasserstoff für die Herstellung synthetischer Kraftstoffe (Power to Liquid, PtL) um die Hälfte höher als in bisherigen Studien.
Auf 700 Terrawattstunden (TWh) jährlich veranschlagt das Jülicher Forscherteam den Wasserstoffbedarf zur PTl-Herstellung allein in Deutschland in 2050. Hierbei schlagen die hohen Effizienzverluste bei der PTl-Produktion zu Buche. Der Grundbedarf an Wasserstoff, der für die Dekarbonisierung der Industrie, die Abdeckung von Dunkelflauten und andere Anwendungen benötigt wird, liege im Einklang mit früheren Studien in 2050 bei etwa 400 TWh jährlich. Insgesamt sei zu erwarten, dass die grüne Wasserstoffproduktion in Europa im Jahr 2050 etwa 44 Prozent der Stromerzeugung (4600 TWh) benötigen werde.
Allerdings rechnet Institutsleiter Detlef Stolten damit, dass ab 2050 auch die direkte, effizientere Nutzung von Wasserstoff über Brennstoffzellen - zumindest im Schiffsverkehr - zunehmend zum Tragen kommt und damit der hohe Wasserstoffanteil für die PtL-Produktion wieder reduziert werden kann.
Stark im erneuerbaren Verbund
Da schon geringere Mengen nicht als gesichert gelten, könnte dieser höhere Bedarf auch mit höheren Beschaffungsrisiken verbunden sein. Um den hohen grünen Wasserstoffbedarf und den entsprechend höheren Bedarf an erneuerbarem Strom zu decken, setzt das Jülicher Forscherteam auf den Ausbau des europäischen Energieverbunds. So könnten Spanien, Norwegen, Italien und Griechenland künftig zu wichtigen Wasserstoffexporteuren für andere europäische Länder werden. Hauptabnehmer ist laut der Studie Deutschland mit einer Importquote von 77 Prozent (550 TWh, 2050), gefolgt von den Niederlanden.
Eine zentrale Voraussetzung für einen solchen europäischen Wasserstoffmarkt mit einem geschätzten Volumen von 100 Milliarden Euro ist allerdings ein noch massiverer Ausbau der regenerativen Stromerzeugung in Europa. Die Ausbauraten für die Erneuerbaren in Europa müssten um den Faktor 5 gesteigert werden, rechnet die Studie vor. Das Jülicher Forscherteam betont auch beim erneuerbaren Strom die Vorteile des europäischen Verbunds, sowohl aus Gründen der Versorgungssicherheit als auch der Wirtschaftlichkeit. Für Deutschland wird für 2050 eine Eigenversorgung mit Strom von 66 Prozent prognostiziert (430 TWh Import).
Europäische Wasserstoffproduktion wettbewerbsfähig
Der Bedarf an Strom und Wasserstoff könne kostengünstig in Europa selbst gedeckt werden, so die Studie. Damit habe Europa die Option, die eigene Versorgung sicherzustellen, ohne auf Importe aus anderen Ländern angewiesen zu sein.
Die europäische Wasserstoffproduktion sei bis zu einem Importpreis von 3,20 Euro pro Kilogramm im Jahr 2030 wettbewerbsfähig. Dies gelte aber nur, wenn die erneuerbaren Energien stärker ausgebaut würden. Andernfalls werde der Import von grünem Wasserstoff oder dessen Produkten notwendig, was die Gesamtkosten im Vergleich zu einer europäischen Lösung um sechs Prozent erhöhen würde.
Mehr Transportnetze und H2-Speicher
Bei der Kostenabschätzung berücksichtigen die Jülicher Forscherinnen und Forscher auch den Ausbaubedarf der Infrastruktur, vor allem der Transportnetze sowie der Kuppelkapazitäten (zwischen den Ländern). So werden allein für Deutschland zusätzliche Kuppelkapazitäten von 90 Gigawatt (GW) für Strom und 200 GW für Wasserstoff bis 2050 abgeschätzt. Entscheidend sei nun in einem ersten Schritt die Umsetzung der bestehenden Netzausbauplanungen, betonte Stolten.
Hinzu komme die Speicherung von Wasserstoff in Salzkavernen, um Dunkelflauten und saisonale Schwankungen bei Windkraft und Photovoltaik überbrücken zu können. Bereits bestehende Untertagespeicher für Erdgas könnten nach einer Umrüstung für die Wasserstoffspeicherung genutzt werden, heißt es in der Studie. Dennoch sei der Neubau von mehr als 50 TWh zusätzlicher Speicherkapazität in Europa notwendig, was einem Zubau von rund 200 Salzkavernen entspricht, davon 80 in Deutschland.
Atomkraft zu teuer
Keine wesentliche Rolle für eine sichere, klimaneutrale und kostengünstige europäische Energieversorgung spielt nach der Analyse der Jülicher Forscherinnen und Forscher dagegen die Kernenergie. Sie sei im Vergleich zu Photovoltaik und Windkraft nicht wettbewerbsfähig - auch unter Berücksichtigung von Speichern und erhöhten Transportkosten. Dies gelte zumindest, solange die realen Investitionskosten für Kernkraftwerke nicht unter 6.600 Euro pro Kilowatt (kW) lägen.
Selbst das neueste finnische Kernkraftwerk Olkiluoto 3 liege mit 6.875 Euro/kW über dieser Schwelle. Der französische Reaktor Flamanville-3 liege bei 10.875 Euro/kW, Hinkley Point C (Großbritannien) bei 17.500 Euro/kW. In dieser Kalkulation seien die Kosten für die bisher ungeklärte Entsorgung nicht enthalten, betonte Stolten.
Bei einer Podiumsdiskussion anlässlich der Vorstellung der Studie „Europäische Energiewende - Deutschland im Herzen Europas" in der NRW-Landesvertretung in Berlin zeigte er sich am Mittwoch dieser Woche (30. Oktober) auch skeptisch gegenüber den derzeit vielfach gehypten SMRs (Small Modular Reactors). Es sei nicht damit zu rechnen, dass diese mit entsprechenden Sicherheitsstandards bis 2050 in Europa wirtschaftlich betrieben werden könnten, so der Jülicher Institutsleiter. Hans-Christoph Neidlein