Strategien in der Klimakrise: Klimapolitik muss Kipppunkte vermeiden
Die derzeitige Klimapolitik birgt ein hohes Risiko für das Kippen kritischer Elemente des Erdsystems, warnen Klimaforscher. Dabei ließen sich Kipp-Risiken beim Überschreiten der 1,5 Grad-Grenze durch rasche CO2-Emissionsreduktion minimieren.
05.08.2024 – Der menschengemachte Klimawandel kann zu einer Destabilisierung von großräumigen Bestandteilen des Erdsystems wie Eisschilden oder Mustern von Luft- und Ozeanströmungen führen – den sogenannten Kippelementen. Zwar kippen diese Elemente nicht über Nacht, doch werden fundamentale Prozesse in Gang gesetzt, die sich über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende vollziehen.
Diese Veränderungen sind so gravierend, dass ein Überschreiten der Kipppunkte unbedingt vermieden werden sollte, warnen Forschende des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) und anderer Institute. In ihrer neuen Studie in der Fachzeitschrift Nature Communications machen die besorgten Wissenschaftler aber auch deutlich: Dieses Risiko könnte minimiert werden, wenn die Erwärmung rasch wieder umgekehrt wird. Dafür sei die Verringerung der Emissionen im laufenden Jahrzehnt ganz entscheidend.
Im Zentrum ihrer Studie stehen vier miteinander verbundene zentrale Klima-Kippelemente: Der grönländische Eisschild, der westantarktische Eisschild, die atlantische meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) und der Regenwald im Amazonas.
Klimapolitik muss ambitionierter werden
Die derzeitige Klimapolitik sei bei weitem nicht ambitioniert genug, um solche Kipppunkte zu vermeiden, denn selbst wenn die globale Erwärmung nach einer Zeit der Überschreitung wieder auf unter 1,5 °C beschränkt werden könnte, bleibe das Risiko für das Kippen kritischer Elemente bestehen, warnen die Klimaforscher. In der Studie untersuchen die Wissenschaftler die Risiken einer Destabilisierung mindestens eines Kippelements als Folge des globalen Temperaturanstiegs auf über 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau. Ihre Analyse unterstreicht die Folgen heutiger Klimapolitik für kommende Jahrhunderte bis Jahrtausende.
„Auch wenn sich Zeitskalen bis 2300 oder noch weiter in die Zukunft sehr weit weg anfühlen, ist es wichtig, die mit Kippelementen verbundenen Risiken so gut wie möglich aufzuzeigen und zu benennen. Unsere Ergebnisse unterstreichen, wie entscheidend es ist, Netto-Null-Treibhausgasemissionen zu erreichen und beizubehalten, um Kipprisiken in den kommenden Jahrhunderten und darüber hinaus wirksam zu begrenzen“, erklärt Tessa Möller, eine der Leitautorinnen der Studie und Wissenschaftlerin am IIASA und PIK. „Unsere Berechnungen zeigen: Bleibt es in diesem Jahrhundert beim Stand gegenwärtiger Klimapolitik und bestehender Klimaschutzmaßnahmen, besteht ein hohes Risiko von 45 Prozent, dass mindestens eines der vier untersuchten Elemente bis 2300 kippt.“
Mehr als 2 °C Erderwärmung erhöhen das Kipp-Risiko enorm
„Wir sehen, dass das Kipp-Risiko mit jedem Zehntelgrad zunimmt, mit dem wir die 1,5 °C überschreiten“, sagt Annika Ernest Högner vom PIK, eine der Leitautorinnen. „Wenn die globale Erwärmung auch noch 2 °C übersteigt, würde das Risiko noch schneller ansteigen. Das ist besorgniserregend, da Szenarien, die sich an der gegenwärtig umgesetzten Klimapolitik orientieren, bis zum Ende dieses Jahrhunderts schätzungsweise zu einer globalen Erwärmung von 2,6 °C führen werden.“
Erderwärmung schneller stoppen – die Uhr tickt
„Unsere Studie bestätigt, dass Kipp-Risiken als Reaktion auf die Überschreitung der 1,5 °C minimiert werden können, wenn die Erwärmung rasch umgekehrt wird“, erläutert Studienautor Nico Wunderling vom PIK. Eine solche Umkehrung der globalen Erwärmung könne jedoch nur erreicht werden, wenn die Emissionen bis 2100 mindestens Netto-Null erreichten, also Emissionen soweit wie möglich reduziert werden und nicht vermeidbare Emissionen der Atmosphäre durch entsprechende Technologien oder natürliche Kohlenstoffsenken wieder entzogen werden. „Die Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig die Klimaziele des Pariser Abkommens sind, die Erwärmung auch im Falle einer vorübergehenden Überschreitung von 1,5 °C auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen“, mahnt der Klimaforscher.
Lösungsorientierte Herangehensweise
Die vier untersuchten Kippelemente regulieren maßgeblich die Stabilität des Klimasystems der Erde. Bislang seien die komplexen Erdsystemmodelle noch nicht in der Lage, das nichtlineare Verhalten, die Rückkopplungen und die Wechselwirkungen zwischen einigen der Kippelemente in vollem Umfang abzubilden, erläutern die Studienautoren. Deshalb nutzen die Forscher ein stilisiertes Erdsystemmodell, um die wichtigsten Eigenschaften und das Verhalten der Kippelemente zu repräsentieren und somit auch die relevanten Unsicherheiten in Kipppunkten und Interaktionen systematisch einzubeziehen. Berücksichtigt wurden dabei auch mögliche künftige stabilisierende Wechselwirkungen, wie die abkühlende Wirkung einer sich abschwächenden AMOC auf die nördliche Hemisphäre, heißt es in der Studie.
Risiken werden unterschätzt – 1,5 °C-Ziel muss Maßstab bleiben
„Diese Analyse der Kipppunkt-Risiken untermauert erneut, dass wir Risiken unterschätzen und das rechtlich verbindliche Ziel des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 °C zu begrenzen, eigentlich bedeutet, die globale Erwärmung auf 1,5 °C zu beschränken. Durch unzureichende Emissionsreduktionen besteht ein ständig wachsendes Risiko, dass diese Temperaturgrenze überschritten wird“, fasst PIK-Direktor und Studienautor Johan Rockström die Ergebnisse noch einmal zusammen. Dieses Risiko gelte es um jeden Preis zu minimieren, um verheerende Folgen für Menschen auf der ganzen Welt einzudämmen. na