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Die Meinung
21. September 2021

Ambitionierte Klimapolitik mit Bürger*innenräten möglich machen

Wenige Tage vor der Bundestagswahl scheint ambitionierter Klimaschutz keine Mehrheiten zu finden. Bürger*innenräte können die aufgeladene Debatte schlichten und Mut für eine zukunftsorientierte Politik machen. Doch wie positionieren sich die Parteien zu Bürger*innenräten?

Mark Schöne ist Doktorand im Bereich der künstlichen Intelligenz und im Politikteam des Vereins Klima-Mitbestimmung JETZT aktiv

Mark Schöne ist Doktorand im Bereich der künstlichen Intelligenz und im Politikteam des Vereins Klima-Mitbestimmung JETZT aktiv
Mark Schöne - ein Mann mit blauer Jacke, Brille und gelber Mütze im Profil
Bild: privat

Seit Jahren entlädt sich die klimapolitische Debatte an einer aufgeladenen Front des Stillstands. Konservative und Grüne streiten über die notwendigen Maßnahmen sowie deren Dringlichkeit, während das 1,5-Grad-Ziel in weite Ferne rückt. Auch die Beobachtung des diesjährigen Bundestagswahlkampfes zeigt kaum Anhaltspunkte für einen klimapolitischen Aufbruch.

Laut einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin müsse zur Erreichung der nationalen und internationalen Klimaschutzziele „deutlich mehr umgesetzt werden als es bislang in den Wahlprogrammen angekündigt und beabsichtigt ist”. Gleichzeitig wird der Klimawandel in der aktuellen Auswertung des Politbarometers des ZDF und der Forschungsgruppe Wahlen als wichtigste Herausforderung in Deutschland wahrgenommen.

Die Klimakrise erfordert ein konstruktives Gesprächsklima

Kaum ein politisches Thema wird in der Öffentlichkeit so kontrovers diskutiert wie die Klimakrise. Oft verdrängen meinungsstarke Stimmen einen angemessenen Diskurs auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese spannungsgeladene Debatte entlädt sich an einzelnen Maßnahmen wie beispielsweise dem Tempolimit oder dem Verbot von Kurzstreckenflügen und verliert dabei den Blick für das große Ganze.

Darin sehen wir eine Krise des Gesprächsklimas, in der die entscheidenden Fragen offen bleiben: Wollen wir als deutsche Gesellschaft oder sogar als europäische Staatengemeinschaft ambitioniert auf das 1,5-Grad-Ziel hinarbeiten? Welche Veränderungen sind dazu aus wissenschaftlicher Sicht nötig und welche Maßnahmen sind wir bereit mitzutragen?

Um effektiven Klimaschutz zu ermöglichen, müssen wir den Raum für einen konstruktiven klimapolitischen Diskurs auf gesamtgesellschaftlicher Ebene schaffen. Diesen Raum konnten Parlamente und Medien der Klimafrage in den letzten Jahrzehnten meist nicht bieten. Doch es gibt Grund zur Hoffnung: Seit einigen Jahren dringt mit Bürger*innenräten ein innovatives und wissenschaftlich begründetes Beteiligungsinstrument in die Spitzenpolitik vor.

Wie Bürger*innenräte die parlamentarische Demokratie ergänzen können

Kontroversen schlichten, gesellschaftliche Spaltung überwinden und mutige Zukunftsvisionen erarbeiten - damit haben sich Bürger*innenräte europaweit in der politischen Praxis bewährt, zum Beispiel in Irland, Großbritannien, Frankreich und zuletzt auch in Deutschland.

Ein Bürger*innenrat ist ein Beteiligungsinstrument, das Empfehlungen für politische Entscheidungstragende entwickelt und sich vor allem durch die folgenden zwei Merkmale auszeichnet: Erstens soll ein Bürger*innenrat einen Querschnitt durch die Erfahrungswelt der Bevölkerung darstellen.

Dazu werden die Teilnehmenden in einem zweistufigen Verfahren zufällig ausgelost, sodass sie die Bevölkerung entlang wichtiger demografischer Kriterien repräsentieren, wie z.B. Alter, Bildungshintergrund, Wohnort, Meinung zu vorgegebenen Fragestellungen, etc. Zweitens treten die Teilnehmenden in einen intensiven Austausch mit wissenschaftlichen Expertinnen und Experten sowie den anderen Teilnehmenden.

Auf diese Weise bekommen sie einerseits das für die Entscheidungsfindung wesentliche Hintergrundwissen vermittelt, andererseits setzen sie sich in umfangreichen und professionell moderierten Diskussionen mit dem Meinungsspektrum der anderen Teilnehmenden auseinander.

Die Erfahrung mit Bürger*innenräten zeigt, dass sich die Teilnehmenden in diesem Prozess selbst bei zu Anfang stark auseinandergehenden Meinungen gegenseitig mit großem Respekt begegnen und bereit sind mit ihren Meinungen aufeinander zuzugehen. So gelangt der Bürger*innenrat über mehrere Sitzungstage zu einem umfangreichen Gutachten, das den politischen Entscheidungstragenden übergeben wird.

Die klimapolitische Perspektive von Bürger*innenräten

Um den klimapolitischen Stillstand zu überwinden, müssen die gesellschaftlichen Fronten zusammengeführt werden. Bürger*innenräte wirken in zweierlei Hinsicht auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hin: Über das Gutachten eines Bürger*innenrates erhält die Stimme der breiten Bevölkerung unmittelbaren Einzug in die parlamentarische Arbeit sowie in die Regierungsarbeit.

Die Politik erhält somit Empfehlungen aus der Bevölkerung, die weit über den Detailgrad von repräsentativen Umfragen hinausgehen und parteiübergreifende Mehrheiten für Lösungen zu kontrovers diskutierten Fragen aufzeigen. Gleichzeitig senden Bürger*innenräte eine klare Nachricht an die Öffentlichkeit: Die von Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam ausgehandelten Empfehlungen spiegeln das Interesse eines breiten Querschnitts der Bevölkerung wider.

Auf diese Weise werden Bürger*innenräte zu Vorbildern und Vertretern der klimapolitischen Gestaltung. Darüber hinaus fachen sie den gesamtgesellschaftlichen Diskurs weiter an und unterstützen eine gemeinschaftliche Verständigung über unterschiedliche Meinungsgruppen hinweg.

Auch in Deutschland gibt es Erfahrungen mit Bürger*innenräten zur Klimapolitik. Erst am 7. September stellte der Bürgerrat Klima - ein aus der zivilgesellschaft heraus initiierter Bürger*innenrat - sein Bürgergutachten vor. Darin zeigen die zufällig ausgewählten Teilnehmenden, dass ein sich intensiv mit der Krise des Klimas auseinandersetzender Querschnitt der Gesellschaft, klare Positionen vertritt: „Das 1,5-Grad-Ziel hat oberste Priorität“ und „Der Klimaschutz dient dem Allgemeinwohl und hat Priorität vor Einzelinteressen“ sind die obersten zwei der insgesamt zehn übergeordneten Leitsätze des Bürger*innengutachtens.

Auch im Detail zeigen sich die Bürgerinnen und Bürger kompromissbereit. Sie sprechen sich in den Handlungsfeldern Energie, Mobilität, Gebäude und Wärme sowie Ernährung für jeweils ca. 20 Handlungsempfehlungen aus, die weit über das hinausgehen, was Angela Merkel 2019 noch als „das, was möglich ist” bezeichnete.

Bundespräsident a.D. Horst Köhler, Schirmherr des Bürgerrat Klima, kommentierte die Wirkungsmöglichkeiten von Bürger*innenräten wie folgt:

„Für mich sendet der Bürgerrat eine starke Botschaft: Unterschätzt Bürgerinnen und Bürger nicht – ihre Veränderungsbereitschaft und auch ihre Bereitschaft, mitzumachen bei der Suche nach Wegen aus der Klimakrise“

So äußern sich die Parteien zu Bürger*innenräten

Der Verein Klima-Mitbestimmung JETZT hat die im Bundestag vertretenen Parteien in Form von Wahlprüfsteinen befragt, wie sie sich zu Bürger*innenräten in der Klimapolitik positionieren. Besonders Bündnis 90/Die Grünen haben Bürger*innenräte bereits in ihre politische Agenda aufgenommen. So hat die Bundestagsfraktion im Frühjahr 2021 bereits die parlamentarische Verankerung von Bürger*innenräten in einem Antrag an den deutschen Bundestag gefordert. Zum Bürgerrat Klima schreiben Die Grünen, sie würden die „Empfehlungen in politische Handlungen übersetzen“.

Auch Die Linke zeigt sich aufgeschlossen. Sie sehe Bürger*innenräte „als Ergänzung zu den bewährten Formen der repräsentativen Demokratie“. Die Empfehlungen des Bürgerrat Klima sollen unterstützt werden, indem sich „für eine parlamentarische Debatte über diese Empfehlungen“ eingesetzt werde.

Die SPD antwortet „Wir werden die Erfahrungen mit Bürgerräten aufgreifen und es uns zur Aufgabe machen, neue Wege der unmittelbaren Beteiligung an staatlichen Entscheidungen zu gehen.“ Sie bleibt bezüglich des bereits durchgeführten Bürgerrat Klima zurückhaltend.

Vergleichbar schätzt Klima-Mitbestimmung JETZT die Position der Union ein. Diese sehe Bürger*innenräte „als Chance, die Widerstandskraft unserer Demokratie zu stärken“ und sei bereit „über eine Beteiligungsplattform in Sachen Klimapolitik analog zum Bürgerrat Demokratie“ zu diskutieren.

Die FDP betont, dass die Parlamente die „zentralen Orte der Diskussion und Entscheidung“ seien. Neue Instrumente der Beteiligung, wie Bürger*innenräte, können laut FDP jedoch einen Gewinn für die parlamentarische Demokratie darstellen. Die AfD hat auf die Anfrage nicht reagiert.

Beteiligung muss weiter gestärkt werden

In unseren Wahlprüfsteinen haben nur Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke eine klare befürwortende Position zu Bürger*innenräten bezogen. CDU und SPD wollen Erkenntnisse der bisherigen Prozesse zunächst weiter prüfen, sind im Allgemeinen jedoch diskussionsbereit. Faktisch belastbar haben sich bisher jedoch nur Die Grünen im Bundestag in Form eines Antrags für Bürger*innenräte stark gemacht.

Es geht nun darum, den Bürgerrat Klima als Vorbild zu nehmen, daraus zu lernen und weitere Bürger*innenräte in der klimapolitischen Praxis zu etablieren. Dabei ist ein politisches Mandat - in Form einer Befassungspflicht - unerlässlich, um die Empfehlungen in die Regierungsarbeit einfließen zu lassen und mittels großer öffentlicher Aufmerksamkeit eine Identifikation der Bevölkerung mit den Empfehlungen zu erreichen.

Der Fokus bei diesen zukünftigen Räten könnte auf stärker umschriebenen, kontroversen Themen liegen, zum Beispiel ein Bürger*innenrat zum Fleischkonsum, zum Verbrennungsmotor, zum Ausbau erneuerbarer Energien etc.

Die politischen Entscheidungstragenden sollten also zukünftig in Momenten, in denen sie sich mit spaltenden klimapolitischen Entscheidungen konfrontiert sehen, mit der Bitte um Meinungsbildung durch einen Bürger*innenrat an die Öffentlichkeit treten. Solche Momente wird es in den anstehenden Koalitionsverhandlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einige geben.

Es ist dringend notwendig, dass sich die Entscheidungstragenden verpflichten sich im Gegenzug für die von den Teilnehmenden geleistete Beratung eingehend mit dem Gutachten zu beschäftigen und argumentativ zu belegen, warum sie sich für oder gegen Empfehlungen entscheiden.

Wir sehen in Bürger*innenräten ein nützliches Instrument, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und um eine von der breiten Gesellschaft getragene ambitionierte Klimapolitik zu gestalten. Bürger*innenräte sollten daher im Interesse aller Parteien und Wählenden sein. Wir sind gespannt, ob es am kommenden Sonntag ein Votum für mehr Beteiligung geben wird. In jedem Fall werden wir uns weiter dafür einsetzen, dass Bürger*innenräte Einzug in den Koalitionsvertrag finden.




Kommentare

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Debashis Baidya 21.09.2021, 16:14:21

Nice perspective. This should be followed.

Balthasar Klingenhage 22.09.2021, 21:04:51

Womöglich erwähnenswert, dass der im Bundestag verhandelte Antrag "Lebendige Demokratie" der Grünen im Sommer auch von die Linke unterstützt wurde.


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