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Die Meinung
27. Januar 2020

Die Alpen in Not – als Folge verfehlter Politik?

Nahezu jede Woche sind Schlagzeilen aus den Alpen zu lesen: Lawinen, Muren, Hochwasser, entwurzelte Bäume und zerstörte Häuser. Sind die Alpen in Not, als Folge der Klimakrise? Wie darauf reagieren? Ist Kunstschnee für weiße Pisten in grüner Landschaft die richtige Antwort? Die Alpenschutzkommission CIPRA fordert die Alpenstaaten zum selbstbewussten Eintreten für Nachhaltigkeit auf. Zu ihrem eigenen Schutz.

Stefan Witty, Vizepräsident CIPRA Deutschland

Stefan Witty, Vizepräsident CIPRA Deutschland
Stefan Witty, Vizepräsident CIPRA Deutschland
Foto: © F. Speer

27.01.2020 – Wir schreiben das Jahr 1989: In Berchtesgaden unterzeichnen auf Initiative der Alpenschutzkommission CIPRA die Umweltminister der Alpen einen internationalen Staatsvertrag: das „Übereinkommen zum Schutz der Alpen“, kurz die Alpenkonvention. Acht Staaten haben sich darin verpflichtet, eine nachhaltige Entwicklung der Alpen in Gang zu setzen. Heute, rund 30 Jahre später, darf man fragen: was hat sich getan? War der Vertrag erfolgreich?

In den Alpen zeichnen sich mehr und mehr Umweltprobleme ungeahnten Ausmaßes ab. Hier schreitet der Temperaturanstieg fast doppelt so schnell voran wie im Flachland. Die Schneefallgrenze steigt von Jahr zu Jahr höher. Der aktuelle Winter ist ein beredtes Beispiel dafür. Weiße Kunstschneebänder an grünen Hängen sichern die Existenz des Wintertourismus.

Die Gletscher gehen rasant zurück und dürften im Jahr 2100 fast überall verschwunden sein. Das hat katastrophale Folgen für das europäische Umland. Flüsse wie der italienische Po und die französische Rhone werden im Sommer vor allem durch Schmelzwasser aus den Gletschern gespeist. Fehlt dieses Wasser, weil die Gletscher verschwunden sind, dann sieht es für die Bewässerung in der Landwirtschaft – Stichwort Po-Ebene – und die Trinkwasserversorgung vieler Gemeinden schlecht aus.

Der Permafrost, das ist der dauerhaft gefrorene Boden, steigt in immer höhere Regionen: Wo der Kit aus Eis und Schnee fehlt, bedrohen Steinschlag und Schlammlawinen die Sicherheit von Siedlungen und Verkehrsverbindungen. Bislang nicht gekannte Stürme fegen über die Alpen und legen in ganzen Regionen die Bäume um. So geschehen im vergangenen Jahr in Südtirol. Der Schutzwaldgürtel, der zum Schutz von Siedlungen und Straßen dringend benötigt wird, wird löchrig. Rasanter Temperaturanstieg, Gletscherschmelze, verschwindender Permafrost und Sturmschäden in den alpinen Wäldern sind nur einige Schlagworte aus einem aktuellen Szenario der Alpen.

Die Alpen sind tatsächlich bereits heute in Not! Sie sind in der Klimakrise für den gesamten europäischen Kontinent ein Frühwarnsystem. Denn hier lassen sich heute schon Auswirkungen des Klimawandels ablesen, die uns in absehbarer Zeit im Flachland erwarten könnten.

Hat die Alpenkonvention also angesichts der rasant zunehmenden Herausforderungen versagt? Nein!

In den dreißig Jahren seit ihrem Entstehen hat sich viel getan. Die Nationalparks haben sich zu dem Netzwerk „Alparc“ zusammengeschlossen und stemmen sich gemeinsam gegen das Artensterben. Viele Gemeinden haben Nachhaltigkeitskonzepte mit erneuerbarer Energieversorgung, regionaler Landwirtschaft und verbesserten Nahverkehrskonzepten erarbeitet und auch schon umgesetzt.

Das Gemeindenetzwerk „Allianz in den Alpen“ ist auf Betreiben von CIPRA entstanden. Hier tauschen sich die Kommunen aus und unterstützen sich gegenseitig. Konzepte für klimaneutrale Gebäude mit regionalen Baustoffen wurden entwickelt und umgesetzt. Unzählige Projekte, die im Rahmen des Interreg-Programms „Alpinspace“ von der europäischen Union gefördert wurden, haben neue Ideen in der Realität getestet und gelten inzwischen als erfolgreich. Alles in allem eine Erfolgsstory in kleinen Schritten, die in der europäischen Öffentlichkeit wenig bis gar nicht wahrgenommen wird.

Also doch alles gar nicht so schlecht mit der Alpenkonvention und dem Alpenschutz? Weiter so? Nochmals ein Nein!

Denn die Entwicklung und Veränderung der Umwelt hat so an Geschwindigkeit zugenommen, dass die regionale Politik nicht mithalten kann. Die Alpen als Bestandteil Europas sollten daher als hoch sensibles Kontrollsystem gesehen Eine Luftnummer beim Green Deal wäre für die Alpen genauso fatal wie regenerative Energiekonzepte, die Fragen des Natur- und Artenschutzes vernachlässigen Mit dem „Green Deal“ für ein klimaneutrales Europa im Jahr 2050 ist die Europäische Union auf dem richtigen Weg. Ob dafür allerdings die geplanten Finanzmittel ausreichen werden, wird von nicht wenigen bereits bezweifelt. Eine Luftnummer beim Green Deal wäre für die Alpen genauso fatal wie regenerative Energiekonzepte, die Fragen des Natur- und Artenschutzes vernachlässigen. Hier ist die Alpenkonvention erneut gefragt.

Es braucht eine laute Stimme der Alpenstaaten. Sie muss so laut sein, dass wir alle verstehen und hören, welche Anstrengungen notwendig sind, um Wege aus der Klimakrise zu finden. Die vielen Projekte der Alpenkonvention sind gut und wichtig. Wenn sie jedoch keinen Rahmen in der europäischen Politik finden, dann können sie nicht den gewünschten Erfolg haben.

Heute ist ein Zeitfenster offen, wo wir auch dank „Fridays for Future“ eine höhere Sensibilität in der Öffentlichkeit spüren. Die Alpenschutzkommission CIPRA fordert die Politiker der Alpenstaaten zu mehr Selbstbewusstsein und Handlungsfreude auf, um gesamteuropäische Lösungen für den Schutz der Alpen einzufordern und diese regional in den Alpen umzusetzen. Dann werden die Alpen zu einer Modellregion für nachhaltiges, klimaneutrales Wirtschaften.

Heute damit anfangen! Wenn nicht jetzt, wann dann?




Kommentare

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Hubert Engelbrecht 20.04.2020, 17:51:24

+442 Gut Antworten

Sehr geehrter Herr Witty,

vielen Dank für den Beitrag zur Entwicklung des Zustands der Alpen im Anthropozän. Die Maßnahmen, die vor Ort zu ihrem Schutz getätigt werden und die Sie im 7.-8. Absatz nennen, sind prima, aber wohl angesichts der überwältigenden Größe der von außen kommenden Klimawirkungen auf die Berge leider zu gering. Die Berge mit ihren Böden, ihrer sensiblen Fauna und Flora und weiter oben mit dem gar nicht so ewigen Eis am und im Fels sind nicht schützbar gegen den anthropogenen Klimawandel, der bedeutet: Temperaturzunahme, Änderung der Niederschlagsmengen, Starkwinde, Dürren, Fluten; dazu saurer Regen. Um sie wirklich zu schützen, müssten wir die Alpen in einem recht großen Museum ausstellen und die Klimaanlage einschalten, sodass für sie die Klimaverhältnisse des Jahres 1760 (Beginn der Industrialisierung) simuliert werden. Seitdem sind mit entsprechenden Folgen und seit 50 Jahren wider besseres Wissen global ca. 2 Teratonnen CO2 aus fossilem C in der Atmosphäre entsorgt worden. Weitere 2,7 TT CO2 könnten im schlechtesten Fall noch dazu kommen. Die Folgen wegen des Verbrennens von fossilem C werden immer besser erforscht; sie sind nicht mehr übersehbar. Ein paar Beispiele: So werden weiterhin ca. 2 km³ Eis/Jahr von dem noch vorhandenen 60 km³ Alpeneis schmelzen und die darin eingeschlossenen atmosphärischen Schadstoffpartikel aus vergangenen Jahrzehnten freisetzen. Die Böden werden an Qualität und Wasserspeicherkapazität verlieren, weil wegen T-Zunahme um 0,5°C/10a die Bodenbakterien mehr organischen C verstoffwechseln. Das Fehlen von Frühjahrs-Schneeschmelzwässern aus den Bergen wird global für die Landwirtschaft als Trillionen-$-Problem gesehen. Einer Studie zufolge verringerte sich von 1979-2010 die Körpermasse der Gams wegen höherer Frühjahrs- und Sommer-Temperaturen um 20%.

Keine Antwort kam, als ich Reinhold Messner anschrieb, er solle sein 7. und letztes Museum („Die Alpen im Klimawandel“) noch vollenden.

Ich bin ratlos.

Mit traurigem Gruß!

HE

Hubert Engelbrecht 27.05.2020, 19:27:31

+367 Gut Antworten

Sehr geehrter Herr Witty,

ich schreibe weiter, weil mit < 2000 Zeichen nicht alles, was mir bei den Alpen wichtig ist, mitteilbar war. Das Problem - besserer Schutz des Naturerbes der Alpen - liegt m. E. in den Themen Feingespür und Moral: hier v. a. betreffend Verantwortung, Fairness, Rücksichtnahme und Verzicht; d. h.: Inwieweit der Mensch seinen indirekten und direkten Nutzungseinfluss auf das / Konsum des Naturerbe/s beschränkt und damit Zustandsänderungen oder Verluste einzelner Teile davon begrenzt. Beispiele für den indirekten Einfluss sind schon genannt. Dazu kommen die Immissionen von reaktivem Stickstoff - aus Landwirtschaft, Gasverbrennungsmotoren, alten Öfen und Heizkraftwerken - die nicht nur zu Überdüngung alpiner Gewässer und Böden, sondern auch zu einem Verlust an Pflanzenarten (mehr Generalisten) und ihren Symbionten führt. Zudem: Die Begrenztheit bei Verbreitungsbereichsverschiebungen kälteliebender alpiner Arten führt zu Habitatkontraktionen. Der direkte Einfluß des Menschen auf die Alpen besteht in Siedlungs-, Erschließungs-, Wirtschaftsdruck, Alpinismus, Sommer-, Wintertourismus; Blechlawinen. Das von einem PKW-Motor auf 500m horizontaler Strecke emittierte CO2 schmilzt wegen seines Treibhauseffekts langfristig ca. 1 kg Eis. Freilich sind Erholung und Ertüchtigtung in den Alpen wichtig. Aber die seit Jahrzehnten in die 10er Mio. gehenden Übernachtungszahlen/Saison sind zu hoch; auch die Ansprüche der Gäste. Besser weniger Konsum und Nutzung, dafür mehr Naturerhalt. Auch wenn anstatt 28% die gesamten Alpen geschützt wären, ist wegen des immensen Einflusses des Menschen ihr Naturerbe nicht dauerhaft erhaltbar. Seine Transformation ist leider schon im Gange. Mehr Schutzgebiete wären gut, weil in diesen die Geschwindigkeit ökologischer Reaktionen herabregulierbar ist. Wegen der Nachkommen und der schon begonnenen Schadens- und Verlustgeschichten alpiner Kultur- und Naturgüter ist eine gründliche Dokumentation dieser Transformation Pflicht.

Grüße

HE

Hubert Engelbrecht 21.06.2020, 12:43:23

+277 Gut Antworten

Sehr geehrter Herr Witty,

nun mein abschließender Kommentar zum Problem, wie das Alpen-Naturerbe am besten zu schützen wäre: Alle sollen solidarisch mithelfen, damit die begonnenen Maßnahmen der CIPRA noch besser wirken. Ohne Interessenkonflikte wäre das sehr einfach: die Alpen in Ruhe lassen; Transit über sie und Zugang zu ihnen verteuern; ansonsten sparsam leben. Dazu: das im Leben generalisieren, was man in den Bergen erfahren hat: nur das Nötigste mitnehmen; keine Selbstüberschätzungen; gut planen und vorbereiten; Risiken minimieren; Kräfte einteilen.

Auf jeder Bergtour bekommt man erneut die Grenzen des menschlichen Maßes gesetzt: Höhenmeter kosten Kraft und Zeit, treiben Schweiß. Aber Technik, Industrie und Wirtschaft haben auch dieses elementare Maß marginalisiert: der Privatverbraucher zahlte im Jahr 2019 max. 0,30 € für 1 kWh Strom; in Hubarbeit umgerechnet bedeutet das, dass eine Person mit 80 kg Gewicht 4587 Hm überwinden muss. Ca. 220 Arbeitssklaven pro Weltbürger wären notwendig zur manuellen Bewältigung der globalen Maschinenarbeit.

Warum unterblieb bei den Alten ein entsprechender Protest wie bei den jungen fridays-for-future? Die Veränderungen in der Bergwelt, die viele der Alten über die Jahrzehnte direkt erlebt haben, hätten zumindest beunruhigen müssen. Wenigstens verblieben vereinzelt Dokumente wie Fotoalben, Tagebücher und Chroniken, die klar zeigen, wie das Alpen-Naturerbe beeinträchtigt wurde.

Kaum erträglich ist die inzwischen gewonnene Erkenntnis, dass mein Leben - Jg. 1957 - enden wird in großer, unlösbarer Sorge, ob die Menschheit noch rechtzeitig in eine klima-, ressourcen- und umweltverträgliche Lebensweise wechseln kann. Gelingt das nicht, war alles umsonst.

Ich beende meine Beiträge mit ungutem Gefühl, weil mein ökologischer Fußabdruck mit 1,6 Erden zu dem beschriebenen Problem beitrug. Ob es folgerichtig ist, mir deshalb Berechtigung und Kompetenz für meine Ausführungen abzuerkennen, mögen die Leser selbst beurteilen.

Alles Gute!

HE


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