Menü öffnen

08.12.2014 – Einer der lautesten und wahrnehmungsstärksten Diskurse der letzten Jahre heißt „Energiewende“. Dieser Diskurs leidet in zwei Kernbereichen an einer bemerkenswerten Kurzsichtigkeit. Zum einen hinterfragen die Akteure in keiner Weise den verbrauchspolitischen Status Quo, der Jahresstromverbrauch in Deutschland wird nicht ansatzweise in seiner Monstrosität in Frage gestellt – im Gegenteil. Oft wird die Diskussion um die Energiewende mit der irrwitzigen Forderung aufgeladen, den hiesigen Stromverbrauch massiv auszuweiten, etwa durch die Idee, in Zukunft auf die individuelle Elektromobilität zu setzen. Der Diskurs bleibt völlig in den engen und gefährlichen Grenzen einer Technikgläubigkeit, durch die unser überkommenes, nationales Wohlstandsmodell erhalten werden soll. Die konsumbasierte Selbstinszenierung durch rituelle Inbesitzbringung von Waren und Dienstleistungen wird einfach als unumstößliches Axiom des menschlichen Lebens beibehalten.

Zum anderen leidet der Energiewende-Diskurs grundsätzlich an einem performativen Widerspruch: Es wird behauptet, dass jede neu errichtete Erneuerbare-Energie-Anlage, sei es Wind, Biomasse oder Photovoltaik, ein Gewinn für die Umwelt sei. Dem ist nicht so. Schön dargelegt hat dies der Oldenburger VWL-Professor Niko Paech in seinem Buch „Die Befreiung vom Überfluss – Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie“. Ohne die Thesen im Einzelnen wiedergeben zu wollen, möchte ich drei Punkte herausstellen:

I) Den additiven Charakter jeder Neuanlage

Jede Zubau-Strategie bedeutet zuallererst einen zusätzlichen Ressourcenverbrauch. Auch eine Windturbine verbraucht Stahl und Seltene Erden, die Herstellung von Photovoltaik-Modulen verschlingt Energie, die Rohstoffe für eine Biomasseanlage müssen nach Deutschland transportiert werden. Die behauptete Amortisierung der bei der Produktion eingesetzten Energie tritt vermutlich nie ein. Denn die vermeintlichen Öko-Fabriken produzieren erneuerbare Kraftwerke noch größtenteils mit fossilen Energieträgern. Jede Neuanlage trägt so stofflich durch das bei ihrer Produktion freigesetzte CO2 zum Klimawandel bei. Die Menge Strom, die eine Neuanlage im Laufe ihrer operationellen Verfügbarkeit ins Netz einspeist, kann nicht mit derjenigen Energie in Zusammenhang gebracht werden, die zu ihrer Produktion verwendet wurde: Dieses einmal emittierte CO2 wird nicht wieder dadurch aus der Atmosphäre verschwinden, dass eine Neuanlage in Betrieb geht. Stattdessen kommt es zunächst lediglich zu einer Ausweitung des Stromangebotes, ohne dass fossile Kraftwerke in gleichem Maße vom Netz gehen.

II) Ausdehnung des Stromangebotes

Durch den Zubau erneuerbarer Stromerzeuger verzeichnen wir in Deutschland seit Jahren an der Börse einen sinkenden Strompreis, der sich langsam auch auf den Haushalts-Strompreis niederschlägt. Dadurch werden weitere Anreize geschaffen, sich mit stromfressenden Symbol-Konsumgegenständen und Energiesklaven zu umgeben, die durch niedrige Strompreise in der Produktion ebenfalls günstiger werden.

III) Einkommenseffekt

Diese Energiewende schafft Arbeitsplätze, steigert die verfügbaren Einkommen. Das bedeutet: mehr Konsum! Mehr Konsum bedeutet einen höheren Ressourcenverbrauch, bedeutet ein Anheizen des Wirtschaftswachstums. Jeder Euro, der als Einkommen verfügbar ist, verursacht zwischen einem und mehreren Kilogramm CO2.

Zudem müssen wir immer die planetarische Perspektive mit wahrnehmen: Jeder in Deutschland lebende Mensch verbraucht jährlich im Durchschnitt um die 8.000 kWh Strom pro Kopf. Selbst wenn wir nur in Deutschland auf 100 Prozent Ökostrom kommen wollen, so halte ich diese „Energiewende“ für ökologisch schlicht nicht verantwortbar. Zu groß wäre der Ressourcenverbrauch, um die benötigten Anlagen herzustellen – vom Landschaftsverbrauch ganz zu schweigen.

Doch was ist mit den Ländern des Globalen Südens? Diesen müssten wir gerechterweise zubilligen, einen mit Deutschland vergleichbaren quantitativen Lebensstandard zu erreichen, ihnen also einen ebenso hohen Stromverbrauch zugestehen. Ist das weltweit durch den Neubau von Erneuerbaren-Energie-Erzeugern klimaneutral zu stemmen? In Indien beträgt der durchschnittliche Stromverbrauch knapp 650 kWh, in China 3.300 kWh, Stand 2011. Rechenaufgabe: Wie viele erneuerbare Energieerzeuger müssen wir bauen, um jedem Menschen dieser Welt 8.000 kWh Strom pro Jahr bereit zu stellen? Wie viele Ressourcen werden dafür benötigt und wo kommen diese her?

Die Ideologie der deutschen Energiewende, die den Stromverbrauch und unser Konsumniveau nicht in Frage stellt, bedeutet wahrscheinlich in der Konsequenz die Schaffung gewaltsam abgeschotteter Wohlstandsinseln. Einen Weg, den Europa und die USA mit ihren hermetisch abgesicherten Außengrenzen bereits eingeschlagen haben.
Wollen wir das?

Wie also weiter? Wir brauchen eine Abkehr von jeder Zubau-Strategie. Die Energiewende ist vollbracht! Wir haben jetzt knapp 28 Prozent Ökostrom in Deutschland im Netz, das reicht, um die Sphäre der Ökonomie an uns Menschen anzupassen, und nicht – so wie bisher – den Menschen an eine Ökonomie anzupassen. An eine Ökonomie, die wenige immer reicher und viele immer ärmer macht. Wir brauchen die Entwicklung einer Postwachstumsstrategie. Tragen wir unserer Erfahrung Rechnung, dass mit der Zunahme der wirtschaftlichen Stärke eines Landes der Verbrauch von Antidepressiva wächst, nicht aber das subjektive Glücksempfinden. Suffizienz heißt das Zauberwort, materielle Genügsamkeit. Wir brauchen eine Deindustrialisierung Deutschlands, eine Abkehr von der Arbeitsplatz-Ideologie. Rechnen wir mit einer reduktiven Anpassung des Verbrauchs um 75 Prozent.

Wer will einen Standort? Ich will eine Heimat! Blühende Landschaften, die hatte mir Helmut Kohl einst versprochen, da war ich 17 Jahre alt. Doch Kohl hatte statt farbenfrohen Blüten und duftenden Auen nur graue Gewerbegebiete und rauchende Industrieschlote in seinem Kopf. Aber ich, fanatisch CDU-treu, poche auf das Kohl-Versprechen, weigere mich, den Kohl‘schen Blüten-Sarkasmus, des Exkanzlers Neusprech, zu verstehen, beharre auf blühenden Wiesen, auf sauberer Luft, auf himmlischer Ruhe, auf klarem Wasser, auf einer Überlebenschance für so viele Menschen auf unserem gemeinsamen Planeten. Ein Recht haben wir darauf. Und blühende Landschaften heißt blühende Landschaften. Nicht beleuchtete Parkplätze. Nicht Straßen. Keine Industrieanlagen. Keine Flughäfen. Keine Gewerbeparkwucherungen. Und erst recht keine Kraftwerke.

Wie kann das gelingen? Strukturell durch die Abkehr von großen Zwangs-Körperschaften, durch Raum für kleinteilige Labore, durch den Aufbau horizontaler Netze. Das Recht auf Allmende ersetzt den Arbeitsplatz-Zwang. Doch die entscheidende Grundfrage ist, wie wir das Primat der Ökonomie in unseren Köpfen überwinden und andere Sinnzusammenhänge für uns entdecken. Den Wachstumsgedanken wenden. Inneres, geistiges, kulturelles Wachstum erspüren.

Lasst uns das Projekt „Energiewende“ für abgeschlossen erklären. Und das Projekt Wachstumswende beginnen.

Lars Lange ist Initiator des Rachel-Architekturprojektes. Sein Hauptziel ist es, das bestehende vertikale System nichtkonfrontativ durch frei vernetzte, horizontale Strukturen zu ersetzen. Der Beitrag ist auch auf Telepolis erschienen.


energiezukunft