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Die Meinung
22. April 2019

Macht mal hinne

Seit fast einem Jahr gilt in Berlin das erste Mobilitätsgesetz Deutschlands. Ein Gesetz, das ohne die intensiven Bemühungen und den Druck der Zivilgesellschaft nicht zustande gekommen wäre. Aber jetzt, da der Berliner Senat und die Bezirke den Staffelstab übernommen haben, bremsen sie die Verkehrswende aus.

Ragnhild Sørensen vom Netzwerk Changing Cities e.V.

Ragnhild Sørensen vom Netzwerk Changing Cities e.V.
(Foto: © Norbert Michalke)

22.04.2019 – Am 14 März brachen Changing Cities und der ADFC Berlin den RadDialog mit dem Senat ab. Was war passiert? Wir erinnern uns: 2016 votierten mehr als 105.000 Berliner und Berlinerinnen innerhalb von weniger als vier Wochen mit ihrer Unterschrift für einen Volksentscheid Fahrrad. Dieser einzigartige Erfolg der Unterschriftensammlung war ein klarer Beleg dafür, dass die Politik eine gravierende Meinungsverschiebung in der Gesellschaft nicht wahrgenommen hatte. Die Berliner Bürger*innen fordern den öffentlichen Raum von der autogerechten Stadt zurück! Und die Statistiken bestätigen dies:

  • nur 33 Prozent der Berliner*innen sind heute noch mit dem Auto unterwegs (bundesweit sind es 57 Prozent)
  • weniger als 50% der Berliner Haushalte besitzt ein Auto, das 23,5 Stunden am Tag rumsteht
  • 50% aller Wege unter 5 km werden mit dem Auto zurückgelegt – eine Strecke, die ohne Weiteres per Rad oder öffentlichem Nahverkehr zurückgelegt werden kann.
  • Unter diesen Bedingungen macht es keinen Sinn, weiterhin etwa 60% des Straßenraumes für den Pkw zu überlassen; ja, es ist sogar undemokratisch.

Mit dem Mobilitätsgesetz wurden die ersten entscheidenden Pflöcke für die Verkehrswende in den Boden gerammt:

  • Vorrang für Rad-, Fuß- und öffentlichen Nahverkehr bei allen Planungen und Maßnahmen
  • Vision Zero als Leitfaden
  • Anlegen eines stadtweites Radnetzes in Berlin
  • Aufbau von transparenten und zeitlich verbindlichen Verwaltungsprozessen
  • Bereitstellung ausreichender Ressourcen (Geld, Personal) für die Umsetzung

Eine Verkehrswende, wie sie in Berlin nun gesetzlich verankert ist, ist kein Ergebnis, sie ist ein Prozess. Der Prozess wird das Zusammenleben in Berlin verändern, da langfristig mehr vom öffentlichen Raum den Menschen zur Verfügung steht. Über dessen Nutzung wollen die Bürger*innen mitentscheiden und so entstehen ganz neue Prozesse und Interaktionen zwischen Verwaltung und Bürger*innen. Eine Mobilitätswende fordert auch „Gedankenmobilität“.

Genau an diesem Punkt hapert es.

Es gibt immer noch eine Menge Menschen in der Berliner Verwaltung und der Politik, die trotz Mobilitätsgesetz nicht bereit sind, den Schritt in die Zukunft zu wagen. Sie wollen den Status quo um jeden Preis erhalten, denn sie spüren instinktiv, dass es um Grundsätzliches geht: um das Rütteln an alten Privilegien, um neue Beteiligungsverfahren, um Transparenz und Verbindlichkeit.

Im sogenannten RadDialog zwischen Changing Cities, dem ADFC Berlin, dem BUND und dem Senat sollten Vorgaben für einen Radverkehrsplan erarbeitet werden. Diese Standards hätten Planer*innen Leitlinien geliefert, nach denen sie das Mobilitätsgesetz bereits jetzt hätten umsetzen können. Denn der Radverkehrsplan ist ein umfangreiches Dokument, das frühestens in ein paar Jahren fertiggestellt ist.

Der Berliner Senat war jedoch nicht bereit, sich an folgenden Punkten zeitlich und inhaltlich festzulegen:

  • Ausbaustandards zur sicheren Radverkehrsführung in Knotenpunkten
  • ​​​​​​​Grundanforderungen an Fahrradstraßen
  • ​​​​​​​Grundlagen für den Entwurf des Radnetzes (z. B. Definition, Anforderungen, Maße, Erschließungsstandards für das Vorrangnetz, das Nebennetz oder Sonderwege)

So aber herrscht bei Planer*innen und verantwortlichen Politiker*innen immer noch keine Klarheit, wie die Berliner Infrastruktur gemäß dem Mobilitätsgesetz auszusehen hat – ein Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes. Doch erst wenn Baustellenleitfaden, Fahrradstraßenleitfaden und Ausführungsvorschriften für Geh- und Radwege fertiggestellt werden, kann es auf der Straße richtig losgehen. Diese Verschleppung wollte Changing Cities nicht mittragen und hat deshalb den Dialog abgebrochen.

Denn bis 2030 soll das Mobilitätsgesetz vollständig umgesetzt sein. Dabei gibt es unfassbar viel zu tun:

  • ca. 1.600 km Hauptverkehrsstraßen mit sicheren Radverkehrsanlagen versehen
  • ca. 1.000 km Vorrangnetz (laut Verbändeentwurf) als Rückgrat des Radverkehrsnetzes ausbauen (meist auf Nebenstraßen)
  • ca. 130 km Radschnellverbindungen errichten
  • viele Kilometer Fahrradstraßen oder Sonderwege im Nebennetz einrichten
  • Diese Mammutaufgabe lässt sich nur mit zügiger Planung und klaren Zeitangaben realisieren.

Schon jetzt macht sich die Unzufriedenheit unter den Berliner*innen bemerkbar: Veränderungen auf der Straße sind kaum wahrnehmbar! Hier werden ein paar hundert Meter geschützter Radweg gebaut, dort einige Radabstellanlagen … Aber vorrangig werden Machbarkeitsstudien (Radschnellwege), Befragungen (Fahrradparken), Untersuchungen (Standorte fürs Fahrradparken) und Prüfungen (Fahrradbeschilderung) durchgeführt. Als ob Berlin die Welt neu erfinden müsste! Weltweit gibt es unzählige Beispiele und Vorbilder wie sicherer und komfortabler Radverkehr funktioniert. Und zwischen Planung und Umsetzung müssen nicht vier Jahre liegen – immer noch die durchschnittliche Zeitspanne für den Bau eines Radweges in Berlin.

Klar, die Erwartungen an das Mobilitätsgesetz sind enorm.

Und es ist auch davon auszugehen, dass die Geschwindigkeit der Umsetzung in den nächsten Jahren zunehmen wird. Nichtsdestotrotz ist es ausgerechnet für die rot-rot-grüne Koalition fatal, wenn ihr ehrgeizigstes Projekt, die Verkehrswende, nur im Schneckentempo voranschreitet. Wenn einzelne Bezirke, wie Reinickendorf, sich quasi tot stellen. 2021, in zwei Jahren, sind wieder Wahlen in Berlin. Währenddessen mobilisiert der Gegner: In Lichtenberg gab es einen Aufschrei, weil zehn Parkplätze zugunsten von 500 Meter geschütztem Radweg wegfallen sollten, und in Steglitz-Zehlendorf fordert der CDU-Fraktionschef den Rückbau des ersten geschützten Radweges des Bezirks.

Die politisch Verantwortlichen müssen den Bürgern und Bürgerinnen erklären, weshalb sie für eine Verkehrswende votierten. Sie müssen den Menschen erklären, dass Berlin jährlich um 40.-50.000 Personen wächst, mit denen wir uns den öffentlichen Raum teilen müssen. Ohne massive Veränderungen kommt es zum Mobilitäts-GAU, zum Stillstand. Weiterhin ist der Verkehr für 23 Prozent des CO2-Ausstosses zuständig – um die angestrebte neutrale CO2-Bilanz bis 2050 zu erreichen, muss hier radikal neu gedacht werden. Vor allen die Grünen müssen nun glaubhaft kommunizieren, dass sie zu all diesen Änderungen stehen und diese sozial verträglich durchsetzen.

Warum werben sie nicht mit den vielen Vorteilen für alle Berliner*innen?:

  • Mit einer Mobilität für alle in den wachsenden Städten, die nur realisiert werden kann, wenn der Platz sinnvoller aufgeteilt wird.
  • Mit den privaten und gesellschaftlichen Ersparnissen, die ein Umstieg vom Auto zum Fahrrad mit sich führt (eine aktuelle EU-weite Studie belegt, dass während ein Pkw-Kilometer 0,11€ externe Kosten verursacht, bringen Radfahren und zu Fuß gehen jeweils 0,18€ and 0,37€ pro Kilometer).
  • Mit der Verflüssigung des Pkw-Verkehrs für die wenigen, die tatsächlich auf das Auto angewiesen sind, wenn der unnötige Pkw-Verkehr minimiert wird.
  • Mit einem Mobilitätsversprechen durch Kombinierung verschiedener Formen der Fortbewegung, die sogenannte multimodulare Mobilität.
  • Mit der Sicherheit vor allem für Kinder und Senioren, wenn der motorisierte Individualverkehr zurückgeht.
  • Mit den Möglichkeiten, den öffentlichen Raum lebenswerter zu gestalten, wenn viele Parkplätze nicht mehr gebraucht werden.
  • Mit den gesundheitlichen Vorteilen des Radfahrens.
  • Mit der Vorbildfunktion von Berlin für 20 andere Städte, das mit einer Verkehrswende von unten die Steigerung der Lebensqualität in Städten deutschlandweit demonstriert.

Diese Umgestaltung lässt sich nicht mit einem Weiter-so realisieren. Um die Ziele des Mobilitätsgesetzes zu erreichen, müssen der Senat und die Berliner Bezirke bis 2030 fast 700 Meter Radverkehrsanlage auf die Straße bringen - pro Tag. Davon sind wir heute noch weit entfernt.

Der Verein Changing Cities e.V. ist aus dem Netzwerk Lebenswerte Stadt e.V. hervorgegangen, der erfolgreich den Volksentscheid Fahrrad organisiert hat und die als Kampagnenorganisation die Verkehrswende in Berlin und Bundesweit vorantreibt.




Kommentare

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Denkender Bürger 23.04.2019, 07:30:36

+182 Gut Antworten

Das mußte ja scheitern:

 

Wo bleibt in der Betrachtung der Straßen-Güterverkehr?

Dafür müßte ein vernünftiges Konzept her, um den LKW-Verkehr auf ein notweniges Minimum zu reduzieren. Der Autoverkehr würde allein dadurch flüssiger - und ein Teil der genannten Probleme wäre allein dadurch beseitigt.

Der Rest ist vor allem eine Frage der Finanzierbarkeit. Und dafür fehlt ebenso ein vernünftiges Konzept.

Damit war die ganze Aktion von vornherein eine Totgeburt.

Da will nur keiner der Verantwortlichen wahr haben.


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