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Die Meinung
04. November 2019

Die Energiewende vom Kopf auf die Füße stellen

Das Herz der Energiewende schlägt schon lange nicht mehr in Berlin, sondern in kommunalen und regionalen Initiativen. Um diese dezentrale Energiewende von unten effektiv zu gestalten, muss die Politik die Rahmenbedingungen jetzt verbessern und die Weichenstellungen zur zweiten Phase der Energiewende einleiten.

Prof. Dr. Uwe Leprich, Hochschule für Technik und Wirtschaft in Saarbrücken, Lehrstuhl Wirtschaftspolitik und Energiewirtschaft

Prof. Dr. Uwe Leprich, Hochschule für Technik und Wirtschaft in Saarbrücken, Lehrstuhl Wirtschaftspolitik und Energiewirtschaft
Professor Uwe Leprich
Foto: © HTW Saarbrücken

04.11.2019 – Der Plan war ja nicht falsch und hatte zudem die höheren volkswirtschaftlichen Effizienzweihen: Wir nehmen zuerst die Atomkraftwerke aus dem System, dann die Kohlekraftwerke. Ersetzt werden sie durch Wind-, Solar- und Biomasseanlagen, die über ein Kupferplattennetz miteinander verbunden sind und dadurch die großräumigen Durchmischungseffekte der Erneuerbaren maximal ausschöpfen können. Die im System zunächst verbleibenden Anlagen – Gaskraftwerke, KWK-Anlagen – tanzen nach der Pfeife der dargebotsabhängigen, variablen Erneuerbaren Energien Wind und Solar, d.h. sie müssen sich äußerst flexibel anpassen können. Nach und nach wird entweder ihr Brennstoff durch grünes Gas (Wasserstoff, synthetisches Methan) ersetzt, und/oder alternative Speicherlösungen treten an ihre Stelle.

Seit einiger Zeit wachsen die Zweifel an diesem Plan: der Ausbau von Wind Onshore-Anlagen ist in Deutschland fast zum Erliegen gekommen, die Biomasse als nicht nachhaltig gebrandmarkt, das Stromnetz weit von einer Kupferplatte entfernt, den eher inflexiblen Kohlekraftwerken wurde großzügig ein vergoldetes Ende bis 2038 eingeräumt, und statt grünem Gas drängt verstärkt das schmutzige Fracking-Gas aus den USA auf den Markt.

Doch die größten Zweifel gehen Richtung Berlin: Man hat den Eindruck, die Politik würde diesen Plan wohl lieber heute als morgen beerdigen, um wahlweise keine deutsche Gelbwestenbewegung zu schaffen, die AfD nicht weiter zu stärken, den bestehenden Wohlstand nicht zu gefährden, eine aufziehende Planwirtschaft bereits im Keim zu ersticken, eine drohende Deindustrialisierung abzuwenden oder einfach nur „dem gesunden Menschenverstand“ zu folgen. Wer heute noch darauf setzt, dass eine mutige und entschlossene Bundesregierung die Energiewende auch gegen Widerstände der Wirtschaftslobbies und gegen ideologische Windkraftgegner vorantreiben und wieder anknüpfen würde an die dynamische Entwicklung der Jahre 2000 bis 2010, der hält wohl auch ein baldiges Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen für realistisch.

Geht man jedoch davon aus, dass die Kupferplatte nie ansatzweise realisiert wird und auch am aktuellen Netzentwicklungsplan erhebliche Abstriche gemacht werden müssen, die Errichtung neuer großer Onshore-Windanlagen nur noch begrenzt durchsetzbar ist, grünes Gas als Importgas über viele Jahre nicht konkurrenzfähig ist, und die Bundespolitik in kompletter Mutlosigkeit verharrt – dann erscheint es höchste Zeit, einen neuen Plan zu verfolgen: nämlich das gesamte Energiesystem von unten nach oben zu denken.

Das Herz der Energiewende schlägt schon lange nicht mehr in Berlin, es schlägt in zahlreichen Kommunalparlamenten, in ideenreichen kommunalen und regionalen Initiativen, in Bürgerenergiegesellschaften und Genossenschaften, in findigen Ingenieuren, die die zunehmend dezentralen technischen Entwicklungen zu innovativen Systemlösungen kombinieren, und in engagierten Mitgliedern der Zivilgesellschaft. Sie sind es, die sich überschaubare Systeme wie Straßenzüge oder Stadtquartiere, Kommunen oder ganze Regionen abgrenzen und hier systematisch nach nachhaltigen Lösungen suchen, auf der Basis der vorhandenen dezentralen Möglichkeiten und der neuesten technischen Entwicklungen. Sie betrachten das Stromsystem nicht länger isoliert, sondern als integriertes Strom-Wärme-Verkehrssystem. Und sie streben für diese Subsysteme einen hohen Grad an Versorgungsautonomie an, um für aufziehende Krisen besser gewappnet zu sein. Es geht dabei nur selten um Autarkie, aber immer um die bestmögliche Nutzung der vor Ort vorhandenen Optionen zur Sicherung der Energieversorgung.

Gut gedämmte Ein- und Mehrfamilienhäuser mit kombinierten PV-Speicher-KWK-Systemen, innovative Mieterstromkonzepte, Quartierskonzepte mit maximaler Ausnutzung dezentraler Versorgungsoptionen, 100% Erneuerbare-Kommunen und Landkreise, Subregelzonen mit weitgehendem Angebots-/Nachfrageausgleich durch eigene Anlagen etc. – dies alles sind Bausteine für ein neues Energiesystem, die heute meist gegen künstlich erschwerte Rahmenbedingungen durch die Bundespolitik erkämpft werden müssen und häufig noch keine Realisierungschance haben. Doch der Versuch, diese „Energiewende von unten“ ökonomisch abzuwürgen, lässt sich politisch nicht mehr durchhalten. Erleichterungen bei Mieterstromkonzepten, Beginn des Abbaus von Hemmnissen bei der Eigenstromerzeugung, Förderung dezentraler Wärmenetze etc. sind Anzeichen dafür, dass der Druck von unten politisch nicht ignoriert werden kann und das Konzept einer zentral geplanten und gesteuerten Energiewende – dabei möglichst noch grenzüberschreitend-europäisch – seinen bisherigen Leitcharakter verliert.

Es erscheint höchste Zeit, die Energiewende wieder wie in ihren Anfängen in den 80er Jahren von unten nach oben zu gestalten und alle Kraft darauf zu konzentrieren, die Rahmenbedingungen dafür zu verbessern. Schritt für Schritt müssen vor allem die rechtlichen und institutionellen Hemmnisse abgebaut werden, um auskömmliche Geschäftsmodelle und sektorübergreifende Systemlösungen auf dezentraler Ebene zu ermöglichen. Eine systematische und umfassende Erfassung dieser Hemmnisse steht noch aus und wäre ein erster wichtiger Schritt für die notwendigen Weichenstellungen zur zweiten Phase der Energiewende, die vor allem dezentral und digital geprägt sein muss.

Prof. Dr. Uwe Leprich lehrt an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Saarbrücken Wirtschaftspolitik und Energiewirtschaft. Von 2008 bis 2016 war er Wissenschaftlicher Leiter des IZES (Institut für ZukunftsEnergieSysteme), von 2016 bis 2018 ließ er sich an das Umweltbundesamt abordnen, wo er die Abteilung Klimaschutz und Energie leitete. Seit August 2019 ist er Mitglied des Aufsichtsrates der Naturstrom AG.




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