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Die Meinung
29. Juni 2015

Wo gibt es Kartoffeln in Herzform?

Wir schmeißen Berge an genießbaren Nahrungsmitteln Jahr für Jahr einfach weg. Das Bewusstsein für den Wert von Speisen scheint in den Unmengen an „Müll“ verschüttgegangen zu sein. Gleichzeitig sind die so lieblos behandelten Produkte „perfekt und makellos“. Was hilft, ist innezuhalten.

Katharina UhligÜbersetzerin undMitarbeiterin eines Biobauernhofes

Katharina UhligÜbersetzerin undMitarbeiterin eines Biobauernhofes
Katharina Uhlig arbeitet auf einem Biobauernhof  und als Übersetzerin. (Bild: © Katharina Uhlig)
Katharina Uhlig arbeitet auf einem Biobauernhof und als Übersetzerin. (Bild: © Katharina Uhlig)

29.06.2015 - Was ist ein Lebensmittel wert? „Das, was auf dem Preisschild steht“, lautet die traurige Antwort. Traurig deshalb, weil der Preis oft nicht widerspiegelt, was das Produkt eigentlich tatsächlich kosten müsste – wenn es nämlich nach ökologischen, sozialen und tierrechtlichen Standards hergestellt worden wäre. Was ein Lebensmittel wirklich wert ist, können die wenigsten von uns realistisch einschätzen. Wer weiß schon, was in so einem Produkt alles an Arbeitszeit, Materialaufwand, Wasserressourcen, Transportkosten etc. drinsteckt? Gemessen wird der Preis maximal noch daran, wie viel günstiger man das gleiche Produkt woanders bekommt.

Etwa 80 Kilogramm Lebensmittel pro Kopf landen in Deutschland jährlich auf dem Müll. Würden wir genauso viele Lebensmittel verschwenden, wenn sie tatsächlich das kosten würden, was sie kosten müssten? Wenn Fleisch beispielsweise ein teurer Luxusartikel wäre, weil unser derzeitiger Fleischkonsum eigentlich gar nicht möglich ist? (Wollte die ganze Welt so leben, bräuchten wir zwei Erdbälle als Ressource. Wäre eigentlich ganz praktisch, da könnte man das Problem der Überbevölkerung auch gleich mit lösen – aber das ist ein anderes Thema.) Würden wir Lebensmittel dann trotzdem immer direkt wegschmeißen, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, ohne auch nur einmal daran zu riechen? Würde man weiterhin Großpackungen von Dingen kaufen, von denen man dann maximal die Hälfte braucht und den Rest irgendwann wegwirft? Durchschnittlich etwa 300 Euro pro Bundesbürger/in landen auf diesem Weg momentan jährlich im Müll - schon eine Stange Geld, aber offenbar tut das noch nicht weh genug. (Hier ein Tipp, wie es noch mehr weh tut, wodurch man entweder tatsächlich mehr darauf achtet, dass nichts schlecht wird, oder sonst wenigstens etwas Gutes tut: Einen Zettel an den Kühlschrank hängen, auf dem notiert wird, wie viel Gramm man weggeschmissen hat, wenn doch mal wieder was verschimmelt ist – und ein- oder zweimal im Jahr pro 100 Gramm 50 Cent oder 1 Euro an Brot für die Welt oder die Welthungerhilfe spenden.)

Obwohl ich mich schon eine ganze Weile mit dem Thema Lebensmittelverschwendung beschäftige, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich den Kinofilm „Taste the Waste“ nicht gesehen habe - ich habe es einfach nie über mich gebracht. Es bricht mir das Herz. Was ich mir aber angeguckt habe, ist der „Nachfolger“, der Fernsehfilm „Die Essensretter“. Das wiederum ist ein aufbauender Film, weil er aufzeigt, was sich Unternehmen und Einzelpersonen alles haben einfallen lassen, um etwas zum Positiven zu verändern. Denn generell ist dieses Thema inzwischen sehr präsent und es gibt viele Vereine und Plattformen, die sich des Problems annehmen – sei es Slow Food, die mit ihren Aktionen immer mehr Aufmerksamkeit auf Lebensmittelverschwendung und die Bedeutung guten und gemeinsamen Essens lenken, Foodsharing, über deren Seite man nicht mehr benötigte Lebensmittel dankbaren Abnehmern anbieten kann, oder die Seite mundraub.org, über die man frei zugängliche Bäume, Sträucher und Kräuter in seiner Nähe findet, an denen man sich einfach bedienen kann.

Auch Restaurants und Unternehmen setzen inzwischen auf kreative Lösungen, um des Problems Herr zu werden: Ein Supermarkt in England verkocht nicht mehr so ansehnliches Gemüse und beinahe abgelaufene Produkte zu Fertiggerichten zum Mitnehmen, in diversen All-You-Can-Eat-Restaurants muss man inzwischen Strafe zahlen, wenn man seinen Teller nicht leer ist, und ein Brauhaus in München hat sogar seine Portionen verkleinert, weil einfach immer zu viel zurückkam und weggeworfen werden musste. Auch recht neue Konzepte wie Supermärkte ohne Verpackung, in denen man genau nach Bedarf einkaufen kann, die Verarbeitung der sogenannten „Misfits“ – Obst und Gemüse, das es aufgrund seiner außergewöhnlichen Form nicht in den Supermarkt schafft – oder das geplante Restaurant „Restlos glücklich“ in Berlin, in dem mit den Resten aus Supermärkten gekocht werden soll.

Das sind alles tolle Initiativen, und dennoch können wir das Problem der Lebensmittelverschwendung nur in den Griff bekommen, wenn jeder Einzelne etwas tut, seine Sichtweise und Einkaufsgewohnheiten ändert und mehr darauf achtet, was er konsumiert. Denn so löblich beispielsweise die neuesten Gesetze der französischen Regierung sind, nach denen Lebensmittel im Einzelhandel nicht mehr weggeworfen werden dürfen, sondern als Spende, Tiernahrung oder Kompost weiterverwertet werden müssen – der Löwenanteil der Verschwendung passiert vorher, beispielsweise auf dem Weg vom Feld zum Verbraucher, und nachher, also in der Gastronomie und beim Endkunden. Insgesamt landet so in Deutschland geschätzt die Hälfte aller Lebensmittel auf der Müllkippe, um die 10 Millionen Tonnen im Jahr.

Was also tun? Meiner Meinung nach lauten die Zauberworte wie so oft „Bildung“ und „Bewusstsein“. „Bildung“ in dem Sinne, dass man wieder lernt, woher Produkte kommen, wie sie hergestellt werden, was an Arbeit, Energie etc. darin steckt, sei es durch einen Besuch auf einem Hof, einem Tag der offenen Tür in einer Bäckerei oder Fabrik, vielleicht sogar dem eigenen Bepflanzen eines Feldes oder der Mitgliedschaft in einer SoLaWi (Solidarische Landwirtschaft). Und natürlich auch Bildung darüber, wie es auf der Welt aussieht mit der Lebensmittelversorgung – dass es nämlich nicht hoffnungs- und aussichtslos ist, die ganze Welt ernähren zu wollen, sondern dass wir es schon könnten, wenn wir es nur hinbekämen, die bestehenden Ressourcen richtig zu verteilen. „Bewusstsein“ in dem Sinne, dass wir uns bewusst machen, wie wertvoll Nahrung ist – wir haben hier den Luxus, beim Einkauf die Qual der Wahl zu haben, aber dem muss man auch bis zu einem gewissen Grad widerstehen lernen.

Wenn ich gezielt mit einem Einkaufszettel in den Supermarkt gehe und mich nicht an jeder Ecke zu einem Schnäppchen hinreißen lasse, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich nachher etwas wegschmeißen werde, sicherlich wesentlich geringer. Und wenn man mal etwas bewusster durch den Supermarkt läuft, kommt in einem unweigerlich die eine oder andere Frage auf: Wie funktioniert das eigentlich, dass die Regale immer so perfekt gefüllt und da nie Dinge zu finden sind, deren Mindesthaltbarkeitsdatum schon überschritten ist? Warum gibt es für Produkte, die in den nächsten Tagen ablaufen, so selten eine Resterampe, z.B. im Kühlregal? Was passiert mit dem Brot, das sich noch bis kurz vor Ladenschluss in der Auslage des Bäckers nur so stapelt, das aber am nächsten Tag kein Mensch mehr haben will? (Eine ähnliche Frage könnte man sich übrigens auch bei All-You-Can-Eat-Buffets stellen.) Und wie ist es eigentlich möglich, dass all das Obst und Gemüse immer so wunderschön, makellos und gleichförmig aussieht?

Ich arbeite Teilzeit auf einem Biohof, der Mitglied in einer Erzeugergemeinschaft ist, das heißt, mehrere Höfen sprechen sich beim Anbau ab und tauschen dann untereinander Obst und Gemüse aus, um sie wiederum den Kunden weiterzuverkaufen. In unserem Gewächshaus wachsen die leckersten Gurken, die ich jemals gegessen habe, und die zum größten Teil auch sehr schön aussehen. Diese Woche haben wir von einem Kollegen eine ganze Palette davon als Reklamation zurückbekommen, weil sie am Stiel ein bisschen „angeschrumpelt“ waren – da, wo die meisten Leute sowieso sehr großzügig abschneiden oder gar nicht erst hinkommen, weil sie die angefangene Gurke irgendwo im Kühlschrank vergessen und den Rest dann irgendwann entsorgen. Ich habe mich wahnsinnig geärgert und gedacht: „Und das in einem Biobetrieb!“ Aber dann bin ich nachdenklich geworden: Unserem Partnerbetrieb selber wird klar sein, dass die Gurken völlig in Ordnung sind und genauso gut schmecken wie immer - vermutlich versucht er nur, sich sozusagen prophylaktisch vor den zu erwartenden Kundenbeschwerden zu schützen.

Woher kommt diese tiefsitzende Überzeugung, dass Produkte immer makellos sein müssen? Dass sie nicht ein bisschen schief und krumm sein, eine braune Stelle haben dürfen? Vermutlich alles Konditionierung: Geht man in den Supermarkt, sieht man sowas eben nicht. Krumme Gurken? Gibt es nicht. Kartoffeln in Herzform? Ebenso wenig. Zwei- oder dreibeinige Möhren? Unvorstellbar. Die unterbewusste Schlussfolgerung lautet dann natürlich: Was anders aussieht, ist nicht normal, nicht in Ordnung, vielleicht sogar nicht verzehrbar. Dabei produziert die Natur nun mal nicht uniform. Wäre auch schlimm – wir wollen ja auch nicht, dass alle Menschen gleich aussehen, oder? Oder dass alle, die einen kleinen „Makel“ haben - zu kurze Beine, eine Narbe, ein Hohlkreuz , automatisch benachteiligt werden, „aussortiert“ sozusagen. Vielfalt ist gut, Vielfalt ist spannend – und vielleicht, ganz vielleicht, brächte eine Bewusstseinserweiterung im Bereich der Lebensmittel ja langfristig sogar eine gesteigerte Toleranz gegenüber dem „nicht Standardmäßigen“ auch in anderen Lebensbereichen mit sich. Es wäre uns und der Welt zu wünschen.

Katharina Uhlig, 30 Jahre, arbeitet auf einem Biobauernhof am Niederrhein und freiberuflich als Übersetzerin. Letztes Jahr erschien das von dem New York Times-Journalisten Michael Moss verfasste und unter anderem von ihr übersetzte Buch „Das Salz-Zucker-Fett-Komplott. Wie die Lebensmittelkonzerne uns süchtig machen.“ im Ludwig Buchverlag. Außerdem unterrichtet sie an Schulen zu den Themen Nachhaltigkeit, Konsum und Klimawandel.




Kommentare

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wilson 03.07.2015, 20:40:42

+188 Gut Antworten

sehr guter text

 

mich würde noch ein weitere text zum thema mit der überbevölkerung interesieren

 

liebe grüße

wieland


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