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Nachgefragt
30. Juni 2020

„Die Stadt der Zukunft muss eine nachhaltige Stadt sein“

Immer mehr Menschen leben in urbanen Räumen. Im Angesicht von Klimawandel, Digitalisierung und starker Verdichtung stellt das die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft vor zunehmende Probleme. Städte müssen radikal umdenken, meint der Zukunftsforscher Stephan Rammler.

Prof. Dr. Stephan Rammler, Soziologe und Transformationsforscher am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT)

Prof. Dr. Stephan Rammler, Soziologe und Transformationsforscher am Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT)
Stephan Rammler im Interview
© IZT, Amin Akhtar  

Herr Rammler, wie sieht die Stadt der Zukunft aus?

Die Stadt ist die Zukunft unserer Zivilisation. Nach allem was wir wissen und erwarten, wird Leben künftig überwiegend in urbanisierten Regionen stattfinden. Und wenn sich zwölf Milliarden Menschen in urbanisierten Räumen ballen, dann haben wir es mit einer ganz anderen Dichte zu tun als wir es aus der Vergangenheit kennen. Raumknappheit wird zu einem wichtigen Signal für die Politik und Märkte. Unter diesen Bedingungen ist die Frage der Nachhaltigkeit eine ganz besondere Bedingung. Die Stadt der Zukunft muss eine nachhaltige Stadt sein.

Wie definieren Sie Nachhaltigkeit?

Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften, ist hierbei entscheidend. Diese Resilienz nimmt unter den sich wandelnden Bedingungen von Klimawandel, Digitalisierung, starker Verdichtung und Konkurrenzzunahme ab. Vor allem knapper werdende Ressourcen stellen die Widerstandsfähigkeit der Menschen vor zunehmende Probleme. Menschliche Siedlungen befinden sich zum großen Teil an Küstenregionen, die durch den Klimawandel massiv tangiert werden. Auch im Landesinneren nehmen die lebenswerten Räume immer weiter ab. Städte müssen in Zukunft so gebaut werden, dass sie schnell vor Risiken geschützt sind und sich wandelnden Rahmenbedingungen anpassen können. Eine nachhaltige Stadt ist ökonomisch erfolgreich, ökologisch verträglich, sozial gerecht und damit resilient.

Wie kann eine resiliente Infrastruktur geschaffen werden?

Infrastrukturen müssen flexibel und wiedernutzbar gemacht werden. Städte der Zukunft müssen ökologische Städte sein, im Sinne der Lebensqualität für ihre Bewohner. Sie müssen emissionsfrei sein, ein hinreichendes Maß an Grün und Freiraum gewähren. Sie müssen flexible Fortbewegung ermöglichen. Für das Klima müssen sie Null-Emissionsstädte sein. Und im Hinblick auf soziale Resilienz ist es wichtig, die wachsende Ungleichheit in den Städten anzugehen. Verteilungsgerechtigkeit, Zugangsgerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit sind zentrale Kriterien für die Gestaltung guter Lebenssituationen.

Was können Zukunftsquartiere wie das in Berlin geplante Neulichterfelde in dieser Hinsicht erreichen?

Mehr zu Neulichterfelde erfahren Sie hier.

Erstmal ist es wichtig, dort einen gewissen Anteil von sozialem Wohnungsbau zu schaffen. Das ist unbedingt notwendig, um Eliten-Segregation vorzubeugen. Darüber hinaus ist der Riesenvorteil von einem Projekt wie Neulichterfelde, dass wir uns dort von pfadabhängigen Strukturen wegbewegen können. Denn in Städten finden wir oft hochdifferenzierte und -interdependente Strukturen vor, die nicht mehr frei definierbar, also pfadabhängig sind. Bei einem komplett neuen Quartier hingegen haben wir die Möglichkeit, im Sinne von Reallaboren, alles neu zu machen und auszuprobieren. In Neulichterfelde kann durch die S-Bahnanbindung Mikromobilität ganz neu gedacht werden, weg vom klassischen Auto vor der eigenen Haustür, hin zu fahrraddominierten Konzepten und fußläufiger Erreichbarkeit. In der Vergangenheit war es in allen anderen Bereichen die Philosophie, Daseinsvorsorge über zentrale Leitungsstrukturen zu bewerkstelligen – wie Strom und Wärme. Nur im Bereich der Mobilität haben wir uns angewöhnt, mit dem Auto zu privatisieren.

Im Bereich der Energieversorgung gilt es aber, zentrale Strukturen aufzubrechen?

Genau. Dezentralisierung und Energieautarkie ist eine Resilienzstrategie. In neuen Quartieren können sie effiziente und dezentrale Energiesysteme bauen, die auf Sonne, Wind und weiteren regenerativen Energieträgern beruhen und unabhängig von zentralisierten Systemen sind. Selbst produzierte Energie kann auch in Mobilitätsanwendungen fließen, die damit ebenfalls unabhängig sind. Damit können auch analoge Rückfallebenen geschaffen werden, die in unserer digitalisierten Welt, angesichts von Hackerangriffen und der digitalen totalitären Bedrohung durch China sowie Google, Facebook und Co. in Kalifornien immer wichtiger werden.

Inwieweit hilft das, den sozialen Zusammenhalt in diesen Quartieren zu stärken?

Wenn sie neue Quartiere bauen, haben sie die Chance dort Menschen einziehen zu lassen, die ganz neue Gewohnheiten und Routinen entwickeln können. Über die gemeinschaftliche Nutzung von Energiestrukturen und Mobilität können die Menschen anfangen, in Allmenden zu denken, also in gemeinschaftlichen Besitztümern. Dafür braucht es aber auch ein kluges politisches Framing und innovative ökonomische Partner sowie partizipative Verfahren.

Kann eine solche Transformation auch im innerstädtischen Bestand funktionieren?

Nicht im idealen Sinne, wie ich es gerade beschrieben habe. Funktionieren kann dies nur durch eine noch viel größere Innovationsbereitschaft bei allen Akteursgruppen. Solch komplexe Innovationsprozesse müssen Politik, Unternehmen und Zivilgesellschaft gemeinsam angehen, um Pfadabhängigkeiten zu überwinden. Transformation gelingt umso besser und gerechter, je mehr man die Betroffenen als Experten in eigener Sache einbezieht. Menschen, die ihren Alltag gestalten wollen, wissen am besten wo es in ihrer Umgebung im Bestandsquartier harkt.

Und dies gelingt, indem man partizipative Verfahren stärkt?

Genau, darüber hinaus muss Politik einladen zu den Prozessen und moderieren. Sie muss aber auch Verantwortung abgeben können. Denn vieles kann unterhalb der regulativen Ebene der Politik passieren, indem sich die Bürger gemeinschaftlich absprechen. Politiker in einem hoch vermachteten System wie in Deutschland möchten meist nur verwalten und nicht gestalten, weil sie niemanden auf die Füße treten und Macht sichern wollen. Die Politik muss zwar helfen, Leitbilder zu erzeugen – aber die Leibilder selbst müssen entstehen aus dem großen gemeinschaftlichen Ganzen. Partizipative Verfahren sind da die besten Instrumente. Wir sehen das an skandinavischen Städten, die eine ganz andere Tradition an innovativer Beteiligung der Zivilgesellschaft haben und deren urbane Transformation hin zu nachhaltigen Städten weit vorangeschritten ist.

Warum sind die Skandinavier da weiter?

Ich glaube, dass der Grad der Politisierung in der skandinavischen Zivilgesellschaft insgesamt größer ist. Die Bereitschaft für das Gemeinwesen einzustehen ist höher. Die Gesellschaft muss politisch sein, damit Politik funktioniert. Man muss bereit sein, an politischen Prozessen mitzuwirken. Denn man kann politische Aktivität nicht komplett an den Staat delegieren, dann wird Politik schlecht. Das erleben wir in Deutschland. Hierzulande wird zwar vieles diskutiert, und ein Großteil der Bevölkerung will den Klimawandel begrenzen und nachhaltigere lebenswertere Städte. Aber die Bereitschaft, wirklich etwas zu verändern – sei es über eine andere Lebensweise oder Beteiligung an politischen und gesellschaftlichen Prozessen – ist weiterhin gering.

Angesichts der Klimakrise und fehlender urbaner Lebensqualität muss die Transformation eigentlich sehr schnell gelingen. Wie sehen sie für Deutschland die Chancen in den kommenden Jahren?

Wir sind am Anfang. Also dort, wo die skandinavischen Städte vor 25 oder 30 Jahren waren. Technologisch sind wir zwar sehr weit, aber bei der Frage, eine pfadbrechende Transformation mit neuen Technologien zu betreiben, sind wir ganz schlecht. In unserer Gesellschaft herrscht ein zu hohes Maß an Verlogenheit und Lobbybereitschaft sowie die Bereitschaft, extreme soziale Ungleichheiten zu akzeptieren. Gleichzeitig lässt sich eine kulturelle Transformation nicht staatlich verordnen, sie ist etwas Hochvolatiles, nicht Steuerbares. Ich wünsche mir auch gar nicht, dass sie steuerbar ist. Lieber habe ich den Klimawandel und andere unangenehme Dinge als eine totalitäre Nachhaltigkeitsdiktatur, wie sie gerade in China ausprobiert wird. Und in Kalifornien enden wir paradoxerweise am selben Ende. Langfristige kulturelle Transformationsprozesse sind in einer offenen demokratischen Gesellschaft zeitlich so angelegt, dass sie mit unseren Problemhorizonten und dem engen zeitlichen Rahmen dahinter eigentlich nicht kompatibel sind. Projekte wie Neulichterfelde bieten wiederum die Möglichkeit, neue Flächen frei zu definieren und innerhalb eines Reallabors Pfadabhängigkeiten zu überwinden.

Das Interview führte Manuel Först

Dieser Artikel erschien zuerst in der aktuellen Print-Ausgabe der energiezukunft. Das Thema: Urbane Energiewende.


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