Menü öffnen

Nachgefragt
05. Februar 2016

Kanada: „Die Ölindustrie führt einen Überlebenskampf“

Paul Gipe ist US-Pionier in puncto Erneuerbare, Glen Estill entwickelt kanadische Windkraftprojekte. Im Interview mit neue energie erklären sie, warum in Kanada viel von den Provinzen abhängt, Teersand-Projekte vor dem Aus stehen und weshalb sie Einspeisetarife für das beste Vergütungssystem halten.

Fort McMurray im kanadischen Bundesstaat Alberta ist das Zentrum des extrem klimaschädlichen Abbaus von Ölsanden. Für die Förderung werden Milliarden Liter Wasser benötigt, große Mengen Treibhausgase entweichen in die Atmosphäre und riesige Fläche
Fort McMurray im kanadischen Bundesstaat Alberta ist das Zentrum des extrem klimaschädlichen Abbaus von Ölsanden. Für die Förderung werden Milliarden Liter Wasser benötigt, große Mengen Treibhausgase entweichen in die Atmosphäre und riesige Flächen Wald werden gerodet und Böden vergiftet. (Foto: The Interior, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:SyncrudeWoodBuffalo.JPG)

05.02.2016 – Paul Gipe gilt als einer der Vorkämpfer für den Ausbau Erneuerbarer Energien in Nordamerika. Der US-Ingenieur war 2004 Geschäftsführer der Ontario Sustainable Energy Association. Glen Estill dagegen projektiert Windparks und ist Eigentümer des Unternehmens Sky Generation Inc. in Ontario.

neue energie: Herr Gipe, Herr Estill, das Erneuerbaren-Potenzial in Kanada ist riesig. Allerdings ist der Systemwechsel stark abhängig vom politischen Kurs der einzelnen Provinz-Regierungen. Bislang waren die Provinzen Ontario, Alberta und Quebec in Sachen Erneuerbare führend. Braucht es nicht ein starkes Bekenntnis der Nationalregierung in Ottawa – gegen die Ölgewinnung aus Teersanden, für CO2-Preise und weniger Emissionen? Und wie wäre es mit einem einheitlichen Vergütungssystem, um es Investoren leichter zu machen?

Glen Estill: Erneuerbare haben tatsächlich sehr großes Potenzial in Kanada. Das Land bezieht 65 Prozent seines Stroms aus Wasserkraft und Windenergie. 15 Prozent stammen aus Atomenergie, übrig bleiben 20 Prozent aus fossilen Quellen. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern sind die Ausbaumöglichkeiten im Stromsektor also begrenzt. Alberta und Saskatchewan haben kürzlich einen Kohleausstieg verkündet und wollen sich in Richtung 50 Prozent Erneuerbare bewegen. Man muss wissen, dass Rohstoffabbau und Stromerzeugung grundsätzlich der Gesetzgebung der Provinzen unterliegen. Diese müssen also bei Klimalösungen eine Hauptrolle spielen. Die Bundesregierung wiederum ist von zentraler Bedeutung, wenn es um Steuern geht. Außerdem hat sie Anreizprogramme für erneuerbare Energien aufgelegt. Klimaschutz wird viel effektiver sein, wenn gemeinsam mit den Provinzen ein kooperativer Ansatz verfolgt wird. Aber erwarten Sie nie von einer kanadischen Regierung, dass sie etwas gegen die Ölgewinnung aus Teersanden unternimmt.

Paul Gipe: Man sollte auch nicht übersehen, was in Ontario schon geschehen ist. Dort haben sie als Erste angekündigt, ihre Kohlekraftwerke abzuschalten, und haben es innerhalb von zehn Jahren geschafft. Das ist bedeutend, nicht nur für Kanada, sondern für ganz Nordamerika. Ontario ist Kanadas bevölkerungsreichste Provinz und sein industrielles Kerngebiet. Kohle deckte dort fast ein Viertel des Strombedarfs. 2009 führte die Provinz dann die fortschrittlichste Erneuerbaren-Politik in Nordamerika in den letzten drei Jahrzehnten ein. Dass Ontario heute nicht mehr so im Fokus der Aufmerksamkeit steht, sollte nicht von den dortigen Erfolgen ablenken.

Was erwarten Sie nach dem jüngsten Regierungswechsel? Der neue Premierminister Justin Trudeau scheint weniger auf fossile Energien fixiert zu sein, seine Umweltministerin ist jetzt ausdrücklich auch für den Klimawechsel zuständig.

Gipe: Trudeau ist sicherlich auf einem guten Weg. Wir müssen aber abwarten, wie viel politisches Kapital er bereit ist, in das Energiethema zu investieren. Ich für meinen Teil denke, dass die kanadische Bundesregierung sehr viel mehr in der nationalen Energiepolitik tun könnte, als in der jüngeren Vergangenheit geschehen.

Estill: Eine Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und den Provinzen ist eindeutig das Beste. Ottawa könnte CO2- oder Treibstoffsteuern einführen, bestimmte steuerliche Vorteile für fossile Treibstoffe abschaffen, Forschung und Entwicklung sowie technologische Pilotprojekte unterstützen. Sie kann zum Beispiel auch die Effizienz von Treibstoffen regulieren.

In Deutschland spielt bislang die Bürgerbeteiligung eine wichtige Rolle bei der Energiewende. Wie sieht es damit in Kanada aus?

Gipe: Kanadas Regierungssystem funktioniert ähnlich wie das britische und damit grundlegend anders als in Deutschland. Vergleiche lassen sich daher nur schwer ziehen. Es gibt aktive Gruppierungen in Kanada, aber sie können die Politik nur beeinflussen, wenn sich eine gute Gelegenheit bietet – etwa als 2004 in Ontario eine neue Regierung ins Amt kam, die Kohlekraftwerke schließen wollte. Derzeit bietet sich in Alberta eine ähnliche Gelegenheit.

Estill: Die Ansätze, gesellschaftliches Engagement politisch zu fördern, waren bislang eher unbeholfen. Alberta hat jetzt die Möglichkeit, da etwas richtig zu machen. Ob das auch geschieht, ist derzeit noch offen.

US-Präsident Obama hat vor Kurzem den lange diskutierten Bau der Keystone-XL-Ölpipeline zwischen beiden Ländern abgelehnt. Wie sehr schmerzt das die kanadische Fossil-Industrie?

Gipe: Zunächst einmal dürfte das für Trudeau eine große Erleichterung gewesen sein. Durch Obamas Entscheidung musste er nichts unternehmen und konnte sich auf andere Themen konzentrieren. Sicher war das ein großer politischer Rückschlag für die Ölindustrie. Es zeigt, dass sie besiegt werden kann. Allerdings war das Projekt wohl bereits aus wirtschaftlichen Gründen erledigt.

Estill: Dass die Leitung nicht gebaut wird, ist viel unwichtiger für die kanadische Teersand-Branche als der aktuell niedrige Ölpreis. Die Leitung hätte sich nur gerechnet, wenn die großen Pläne aufgegangen wären, die Teersand-Gewinnung zu steigern. Jetzt wird es nur dort Steigerungen geben, wo Projekte schon im Wesentlichen fertig sind.

Sie haben es angesprochen: Alberta, das Öl-Zentrum Kanadas, hat sich jüngst sehr ambitionierte Erneuerbaren-Ziele gegeben. Sie erwarten, dass es deshalb zu einem „gewaltigen Kampf“ kommt. Was passiert dort genau?

Gipe: So wie in Bakersfield, der Ölhauptstadt von Kalifornien, erkennt die Ölindustrie die Zeichen und führt einen Überlebenskampf. Die US-Kohleindustrie wird Geld nach Alberta pumpen, um die Pläne der neuen Provinzregierung zu stoppen, denn wenn Alberta das durchzieht, können es auch andere Bundesstaaten und Provinzen.

Estill: Die Tage der Kohle sind in Alberta gezählt. Die Provinz hat ein großes Erneuerbaren-Potenzial, darunter auch viel günstige Windenergie, und mit das beste System für Solar des ganzen Landes. Und es gibt dort eine Menge günstiges Erdgas.

Welche kanadische Region ist denn aus Ihrer Sicht auf dem vielversprechendsten Weg, was die politischen Rahmenbedingungen angeht?

Gipe: Keine Provinz bietet aktuell die Rahmenbedingungen, um erneuerbare Energien zügig auszubauen. Am ehesten noch Ontario, aber die Entwicklung wird seit einigen Jahren abgewürgt, seit die Erneuerbaren mit der Atomkraft konkurrieren. Das ist dort die bevorzugte Technologie. Albertas Vorschläge könnten Einfluss darauf haben, was in anderen kanadischen Provinzen passiert, sind aber noch Jahre von der Umsetzung entfernt. Immerhin werden Manitoba und Quebec damit weitermachen, große Wasserkraftprojekte im hohen Norden zu entwickeln.

Estill: Die größten neuen Chancen bieten sich in Alberta und Saskatchewan. Ontario und Quebec werden zwar weiter ausbauen, aber langsamer als in der Vergangenheit. Ontario könnte im nächsten Jahrzehnt anziehen, wenn das 3000-Megawatt-Atomkraftwerk Pickering 2020 vom Netz genommen wird.

Mit Einspeisetarifen erlebten in Ontario die Erneuerbaren einen Aufschwung, mittlerweile wurde zu einem Ausschreibungssystem gewechselt. Herr Gipe, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind aber Ihrer Meinung nach Einspeisetarife ideal, um die Energiewende zu beschleunigen…

Gipe: Um es kurz zu sagen, der rasante Erneuerbaren-Zubau bedrohte in Ontario die Dominanz der Atomkraft. Das ändert sich jetzt auf Kosten der Erneuerbaren. Wenn man aber den schnellen Ausbau der Erneuerbaren will, um unseren Planeten zu retten, und wenn man die Möglichkeit, von Erneuerbaren wirtschaftlich zu profitieren mit allen Bürgern teilen möchte, mit reichen und armen, dann gibt es keine andere Wahl als Einspeisetarife.

Estill: Einspeisetarife sorgen am schnellsten dafür, dass Erneuerbare stark ausgebaut werden. Sie haben in vielen europäischen Ländern funktioniert und sie haben in Ontario funktioniert.

Laut manchen Projektierern haben Ausschreibungen teilweise bei großen südamerikanischen Parks funktioniert. In Kanada sind ebenfalls große Windparks denkbar…

Gipe: Ausschreibungen wählt man, wenn man das Wachstum der Erneuerbaren kontrollieren oder einschränken möchte, oder wenn man das Geschäft politisch bevorzugten Akteuren überlassen möchte.

Estill: Ausschreibungen bevorzugen große Unternehmen mit viel Kapital. Das leistet auch bereits das Steuersystem. Großkonzerne können die Finanzierungskosten für Erneuerbare mit den Einkünften aus anderen Energiegeschäften verrechnen. Unternehmen, die keine Umsätze mit Energie erzielen, können das nicht. Der US-Einzelhandelskonzern Walmart etwa kann also in Kanada nicht auf der gleichen Basis in Erneuerbare investieren wie beispielsweise der kanadische Ölkonzern Suncor. Das ist diskriminierend. Das ist dumm. Aber welches Steuersystem ist ohne Probleme? Große Windparks haben es dafür schwerer, die Unterstützung der Öffentlichkeit zu bekommen. Es ist einfacher, etwas abzulehnen, das von einem multinationalen Konzern aus dem Ausland umgesetzt wird, als von einer lokalen Organisation. Ausschreibungen erzeugen also nicht die gleiche politische Unterstützung wie Einspeisetarife, die so ausgestaltet sind, dass sie Beteiligung vor Ort ermöglichen.

Man hört oft, dass Kanada ein idealer Absatzmarkt für die deutsche, dänische und US-amerikanische Windbranche ist. Stimmt das so pauschal? Senvion etwa musste seine Rotorblattproduktion in Ontario einstellen, weil die kurzfristige Nachfrage fehlte.

Gipe: Zunächst braucht es überhaupt einen Markt. Die aktuelle Marktlage bietet keine Grundlage für eine Fertigung. Und aufgrund des nordamerikanischen Freihandelsabkommens kann Kanada von Herstellern – auch europäischen – beliefert werden, die einen Sitz in den USA haben.

Estill: Die Rotorblattfertigung von Siemens in Ontario läuft gut. Die Kostenstruktur in Kanada kann mit der in den USA aufgrund des Wechselkurses mithalten, es wäre also folgerichtig, eine Gesamtstrategie zur Fertigung in Nordamerika zu verfolgen. Quebec und Ontario hatten jeweils Regelungen für einen lokalen Anteil der Produktion. Eine solche Zersplitterung hilft aber nicht dabei, eine Lieferkette in Nordamerika aufzubauen. Kanada spielt bei der Nachfrage in einer höheren Liga, als man erwarten könnte. Bei der installierten Windkapazität liegt das Land an siebter Stelle. Und während die übliche Faustformel besagt, dass Kanada auf zehn Prozent der US-Nachfrage kommt, sind es bei der Windenergie eher schon 20 bis 30 Prozent.

Mit Blick auf die Ergebnisse des Pariser Klimagipfels – muss die Politik einfach die richtigen Weichen stellen, oder brauchen wir auch ein Umdenken bei unseren täglichen Lebensgewohnheiten? In Nordamerika sind Energieverbrauch und CO2-Emissionen pro Einwohner ja besonders hoch …

Gipe: Ontarios früherer Premierminister Dalton McGuinty hat es auf den Punkt gebracht, als er das Erneuerbaren-Gesetz vorstellte: Wir müssen von einer Kultur des Konsums zu einer Kultur des Bewahrens gelangen.

Estill: Ich unterhalte mich oft mit Menschen, die sich für die Windbranche interessieren. Ich frage sie dann immer, was dabei die drei wichtigsten Dinge sind. Sie antworten: ‚Man braucht gute Windbedingungen, man braucht günstiges Geld. Und man braucht ein Netz, um einspeisen zu können.‘ Ich antworte darauf, dass nichts davon ausschlaggebend ist. Man braucht erstens die Politik, zweitens die Politik und drittens die Politik. Wir bekommen unsere Energie aus der Technologie, die die Politik fördert. Das gilt für den gesamten Energiesektor, aber vor allem beim Strom. Die Politik wird letztlich von Menschen gemacht. Also ja: Die Menschen sind wichtig.

Das Gespräch führte Jörg-Rainer Zimmermann (neue energie). Das Interview erschien zuerst in: neue energie, Ausgabe Nr. 01/2016, S.68-70, www.neueenergie.net 


Kommentare

Diskutieren Sie über diesen Artikel

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben


Name: *
E-Mail: *
(wird nicht veröffentlicht)
Nicht ausfüllen!


Kommentar: *

(wird nicht veröffentlicht)
max 2.000 Zeichen


energiezukunft