Zukünftiger Strombedarf: Erneuerbaren Ziele anpassen oder beibehalten?

Gesunkener Stromverbrauch und nach unten korrigierte Prognosen: Sollte der Ausbau Erneuerbarer Energien deshalb weniger ambitioniert ausfallen? Die Frage ist, ob ein Zuviel oder Zuwenig volkswirtschaftlich größeren Schaden anrichtet.
16.10.2025 – Im Januar 2020 veröffentlichte das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) eine Zahl, die die Energiepolitik bis heute bestimmt – und die derzeit für Streit sorgt: 748 Terawattstunden (TWh). So viel Strom werde Deutschland laut dem EWI im Jahr 2030 brutto verbrauchen. Die damalige Merkel-Regierung hatte in ihren Szenarien eher mit einem Wert etwas unter dem damals aktuellen Bruttostromverbrauch gerechnet, der 2018 bei etwa 593 TWh lag, und die Ausbauziele für die Erneuerbaren entsprechend an diesem Wert ausgerichtet.
Erst die Ampelregierung orientierte sich am Szenario des EWI und setzte als Richtwert für den Bruttostromverbrauch 2030 im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) 750 TWh fest, den Erneuerbare Energien zu 80 Prozent decken sollen. Sie erleichterte unter anderem die Genehmigungen für Windenergieanlagen und konnte so den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen.
Sinkender Strombedarf in Deutschland
Der Strombedarf sank in den vergangenen Jahren jedoch, statt zu steigen. Seit etwa einem Jahr zeigen eine Reihe von Studien, dass die Marke von 750 TWh 2030 verfehlt werden dürfte. Das sorgte und sorgt für Diskussionen: Würden die derzeit im EEG definierten Ausbauziele erreicht, was keineswegs sicher ist, läge der Anteil der Erneuerbaren im Jahr 2030 deutlich über 80 Prozent. Ausgehend von dieser Feststellung scheint es opportun, die Ausbauziele an einen niedrigeren Stromverbrauch auszurichten.
Das EWI hatte daher von der aktuellen Bundesregierung zusammen mit dem Aachener Beratungsbüro BET den Auftrag erhalten, die existierenden Studien auszuwerten und daraus eine mögliche Spannweite für den Stromverbrauch 2030 zu ermitteln. Diese Arbeit – das Energiewende-Monitoring – wurde im September 2025 veröffentlicht und kommt zu dem Ergebnis: Der Stromverbrauch dürfte in der Tat niedriger ausfallen als zunächst angenommen und zwischen 600 und 700 TWh liegen. Doch die Wissenschaftler empfohlen keineswegs den Erneuerbaren-Ausbau zu bremsen, vielmehr sollten Windenergie- und PV-Anlagen weiterhin schnell ausgebaut werden.
Das Science Media Center hat weitere Wissenschaftler um ihre Expertise gebeten und insbesondere die Frage gestellt, was weitreichendere Folgen hätte: Wenn der Ausbau der Netze und der Erneuerbaren sowie des notwendigen Back-ups zu groß oder zu gering ausfielen.
Gründe für gesunkenen Stromverbrauch
Bei der Analyse der Gründe für den gesunkenen Stromverbrauch sind sich die Wissenschaftler weitgehend einig. Vor allem die Energiekrise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine führte aufgrund der hohen Energiepreise zu Produktionseinschränkungen, aber auch zu Effizienzmaßnahmen. Auch die steigenden Eigenverbrauchsanteile von Photovoltaikanlagen in Haushalten und Unternehmen erklären einen Teil der sinkenden Stromnachfrage, fünf bis zehn Terawattstunden könnten es laut Leonhard Gandhi vom Fraunhofer ISE sein. Gandhi weist noch auf einen anderen Effekt hin: Kohle- und Kernkraftwerke haben während des Nicht-Einspeisebetriebs einen erheblichen Eigenbedarf, dieser interne Stromverbrauch entfällt mit der Stilllegung und wirkt sich ebenfalls dämpfend auf die Gesamtnachfrage aus.
Diese Faktoren lassen den Strombedarf steigen
Der bis 2030 und darüber hinaus in allen Szenarien steigende Strombedarf resultiert zum einen aus der Elektrifizierung von Verkehr und Wärme. Gemeint sind die steigende Anzahl elektrischer Fahrzeuge und der Ausbau von Wärmepumpen, um bei der Gebäudeheizung immer weniger auf fossiles Gas angewiesen zu sein. Ebenfalls absehbar, aber mit höheren Unsicherheiten bei der Prognose behaftet, ist der Umstieg der Industrie auf erneuerbare Prozesswärme und Wasserstoff sowie der steigende Strombedarf von Rechenzentren.
Nach Einschätzung von Gandhi gelten E-Mobilität und Wärmepumpen als wichtigste und relativ sichere Treiber, der zusätzliche Bedarf durch Wasserstoffproduktion und den Verbrauch von Rechenzentren ist mit größeren Unsicherheiten verbunden – er hängt stark von technologischem Fortschritt, Standortentscheidungen und Importstrategien ab.
Gandhi rechnet mit Nachholeffekten bei der Elektrifizierung von Wärme und Verkehr. „Der erwartete strukturelle Anstieg des Stromverbrauchs wird mit zeitlicher Verzögerung, aber umso dynamischer einsetzen, sobald Investitionen, Förderbedingungen und Energiepreise wieder stabile Rahmenbedingungen bieten“, lautet seine Einschätzung.
Das Monitoring-Gutachten bezifferte den Strombedarf für 2030 auf 600 bis 700 TWh. Dieser Prognose wird im Grundsatz nicht widersprochen, allerdings gibt es unterschiedliche Annahmen, wo genau der Strombedarf landen wird.
Zu viel oder zu wenig Erneuerbare – was ist folgenreicher?
Leonhard Gandhi erklärt die Bedeutung, die die richtige Einschätzung des Strombedarfs hat: „Wird das Energiesystem zu großzügig dimensioniert, drohen überhöhte Investitionen in Erzeugungs- und Netzkapazitäten, die am Ende nicht vollständig ausgelastet sind. Das kann zu höheren Netzentgelten und unnötig gebundenem Kapital führen. Gleichzeitig bietet eine gewisse Planungsreserve aber auch Vorteile: Sie kann Preisspitzen abfedern, die Versorgungssicherheit erhöhen und in Phasen beschleunigten Wachstums Engpässe vermeiden.“ Bei der Einschätzung der Folgen von einem zu starken bzw. zu geringem Ausbau von Netzen und Erneuerbaren, gibt es verschiedene Argumente.
Nach Einschätzung von Patrick Jochem, Abteilungsleiter Energiesystemanalyse beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, könnte es vermutlich teurer werden, „wenn wir heute von einem höheren Bedarf ausgehen und zur Erreichung der Klimaziele mehr Erneuerbare zubauen und fossilbetriebene Kraftwerke früher abschalten.“ Aber Jochem räumt ein, dass ein solches Szenario auch hilfreich sein könnte, sollte eine Energiekrise wie 2022 eintreten. Insofern plädiert er für ein salomonisches Urteil: Ein Wert in der Mitte (zwischen 600 und 700 TWh) ist für ihn für 2030 erstmal passend. Mittels weiterer Monitorings könnte in den Folgejahren nachgesteuert werden.
Thomas Schöb, Leiter der Forschungsgruppe Energy Systems Transformation am Forschungszentrum Jülich trifft ein klares Urteil in Bezug auf die Folgen eines zu niedrigen oder zu großen Ausbaus: „Definitiv wären die Folgen einer Auslegung auf einen niedrigen Strombedarf weitreichender für das deutsche Energiesystem. Wie der Monitoringbericht und andere wissenschaftliche Studien aufzeigen, können die deutschen Klimaziele und insbesondere Treibhausgasneutralität nur mit weiterer Elektrifizierung von Industrie, Mobilität und Wärmeversorgung erreicht werden, was zwangsweise zu einem signifikant höheren Strombedarf führen wird.“
Schöb verweist auf den Zeitraum über 2030 hinaus, der einen erheblichen weiteren Ausbau notwendig macht mit einem höheren Ausbautempo als bisher. „Sollte das Stromsystem für 2030 auf einen zu niedrigen Strombedarf ausgelegt werden, so scheint eine Erreichung der Klimaziele bis 2045 erheblich gefährdet“, ist seine Warnung.
Zusätzlich verweist Schöb auf die aktuelle Lücke beim Erneuerbaren- und Stromnetzausbau. Sie verlaufen langsamer als geplant. „Sollte sich diese Entwicklung auch bei angepassten Zielen fortsetzen, wären nicht nur die Klimaziele nicht zu erreichen, sondern die Versorgungssicherheit erheblich gefährdet. Zudem würde eine die Auslegung auf einen zu niedrigen Bedarf es vermutlich erforderlich machen, mehr Strom oder fossile Energieträger aus dem Ausland zu importieren, um die Versorgungssicherheit zu erhalten.“ Die Zusatzkosten für den Import fossiler Energieträger sind nur schwer abzuschätzen und könnten erheblich ausfallen. Es sei daher definitiv ratsam, das Energiesystem auf einen höheren Strombedarf auszulegen, da diese für die längerfristige Zielerreichung von Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit vorteilhaft sei.
Kosten der Fehleinschätzung nicht symmetrisch verteilt
Leonhard Gandhi vom Fraunhofer ISE hält es für deutlich problematischer, wenn der künftige Strombedarf unterschätzt wird. „Fehlt es an ausreichender Erzeugungs- und Netzkapazität, steigen die Strompreise, flexible Verbraucher und Elektrolyseure können nicht wirtschaftlich betrieben werden, und die Elektrifizierung von Verkehr, Wärme und Industrie wird ausgebremst.“
Die Kosten einer Fehleinschätzung sind seiner Meinung nach nicht symmetrisch verteilt. „Ein zu hoher Ausbau verursacht zwar Mehrkosten, diese bleiben jedoch vergleichsweise moderat. Ein zu niedriger Ausbau hingegen führt zu erheblichen volkswirtschaftlichen Folgekosten – etwa durch höhere Energiepreise, Produktionsverluste oder verzögerte Klimaschutzmaßnahmen, die wiederum zu zusätzlichen Belastungen im europäischen Emissionshandel oder zu internationalen Strafzahlungen führen können.“
Gandhi verweist auf die aktuellen Schwierigkeiten bei der Integration von Photovoltaik- und Windkraftanlagen. Sie machten das erwähnte Ungleichgewicht deutlich sichtbar. „Fehlende Netzanschlüsse und Engpässe führen bereits heute zu Abregelungen erneuerbarer Erzeugung oder dazu, dass Batteriespeicher oder Erzeugungsanlagen nicht ans Netz gehen können – mit spürbaren Kosten und Wachstumshemmnissen. Ein zentraler Grund liege in den zu konservativen Annahmen früherer Netzentwicklungsplanungen.“ Der Netzausbau erfolgte nur zögerlich. Die Folgen seien heute in Form von Engpässen mit steigenden Redispatch-Kosten und verzögerten Projekten sichtbar.
Das Stromsystem sollte deshalb so gestaltet werden, dass es flexibel auf wachsende Nachfrage reagieren kann, ohne Ressourcen zu verschwenden. Gandhi plädiert für eine vorausschauende, leicht überdimensionierte Infrastruktur, weil sie die volkswirtschaftlich günstigere und risikoärmere Strategie sei. pf





















































