Die Waldverjüngung trifft auf Grenzen, wenn zu viel Schalenwild im Wald lebt und die jungen Triebe frisst. Wie ist die hohe Wilddichte zu erklären?
Peter Naumann: Um die Problemlage zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte notwendig: Über Millionen Jahre hat das Ökosystem Wald gut funktioniert, mit Produzenten, Konsumenten und Destruenten. Die Wälder haben sich natürlich verjüngt. Dann kamen menschliche Störungen: Rodungen fanden statt, Ackerflächen wurden angelegt, es gab Kriege und in deren Folge großflächige Abholzungen, um den Rohstoff Holz zu gewinnen. Das konnte das Ökosystem über viele Jahrhunderte ausgleichen.
In der Zeit des Ancient Régime änderte sich dann der Umgang des Menschen mit dem Wald: Der Mensch erhob sich zum Gestalter und Entscheider. In dieser Zeit wandelte sich die Jagd im Wald. Kirchen und Adel hatten schon im Mittelalter den Jagdbann über bestimmte Wälder ausgesprochen, um die Wildbestände anzuheben. In dieser Epoche wurde das Engagement in dieser Hinsicht aber massiv verstärkt. Ziel war es, mitunter unter Androhung der Todesstrafe, für eine hohe Anzahl von Trophäenträgern auf der Fläche zu sorgen. Mit der Erlegung möglichst vieler starker Trophäenträger wie Rothirschen und Keilern war ein hohes Prestige verbunden. Die deutschen Fürsten haben sich da vieles abgeschaut und weiterentwickelt. Um zum Beispiel Rotwild im Gebirge zu halten – wo es eigentlich im Winter nicht genügend Nahrung findet – wurden Fütterungen angelegt.
Gab es nie Bemühungen, diese Praxis zu ändern?
Vor der Revolution 1848 in Deutschland waren die Wälder schon stark geschädigt. Die Bauern klagten, dass das Wild die Ernten gefährdet. Mit der Revolution bekamen die Wälder eine Atempause – für drei Jahre gab es eine freie Jagd. Aufgrund der starken Bejagung in dieser Phase konnten Mischwälder heranwachsen. Aber in der Kaiserzeit und später in der NS-Zeit mit dem Reichsjagdgesetz wurde die Hege wieder gestärkt. Den Bauern wurde untersagt, in ihren eigenen Wäldern zu jagen. Nach dem ersten und zweiten Weltkrieg gab es Reparationshiebe, die riesige Freiflächen hinterließen. Mit der Industrialisierung, der modernen Landwirtschaft und dem motorisierten Verkehr stieg der Stickstoffeintrag. Aus der daraus erfolgenden Stickstoffkaskade mit Himbeere, Brombeere und Brennnessel entstand ein Paradies für Schalenwild und vor allem für das Rehwild, das von energiereicher Nahrung lebt. Die Verjüngung von Tanne und Buche, auf Freiflächen ohnehin sehr schwierig, war durch den massiven Verbiss und die trophäenorientierte Jagd fast unmöglich. Auch alle anderen Baumarten außer der Fichte und der Kiefer wurden so stark verbissen, dass weder Naturverjüngung noch Pflanzungen ohne Zaunschutz eine Chance hatten. Im Jahr 1970 machte der Wissenschaftsjournalist Horst Stern mit der Fernsehsendung „Bemerkungen über den Rothirsch“ das Problem über Nacht publik. Die Sendung führte im Nachgang zu hitzigen Debatten zwischen Jägern, Naturschützern und Förstern. Vor allem viele Förster begannen die ökologischen Zusammenhänge zu verstehen. Im Jahre 1988 stellte der bayerische Rechnungshof fest, dass die Länge der Wildschutzzäune in den bayrischen Wäldern ungefähr der Entfernung von München nach Peking entsprach. Daraufhin wurde nun auch der bayrische Landwirtschaftsminister aktiv und forderte, mehr Schalenwild zu erlegen. Auch in den Landesforsten der einzelnen Bundesländer wurden die Jagdanstrengungen nun endlich erhöht.
Die Zäune braucht man, um junge Bäume zu schützen?
Ja, gepflanzte Jungbäume musste und muss man heute oft immer noch massiv mit Zäunen schützen, damit sie unversehrt hochwachsen können. Das ist gängige Praxis, man schützt den einzelnen Baum oder ein ganzes Areal mit Zaun. Es gibt auch Mittel auf Schafwoll-Basis, mit deren Hilfe die Leittriebe geschützt werden, aber das wirkt nur bei einer geringeren Wilddichte. Wenn zu viel Wild auf der Fläche lebt, frisst es auch diese Triebe.
Wie kann man denn das „Zuviel“ bestimmen, gibt es da Regeln?
Das Nahrungsangebot bestimmt die Wilddichte. Je größer und energiereicher es ist, umso höher ist zum Beispiel die Fruchtbarkeit der Rehgeißen, die mehr Kitze bekommen und dann mehr fressen. Die Tiere setzen die energiereiche Nahrung nicht in Fett um, sondern in Fertilität. Am Verbiss der jungen Bäume sehen wir Förster das „Zuviel“. Großflächig sind Leittriebe von Tanne und den Baumarten, die wir jetzt im Klimawandel brauchen – Eichen, Ahorn, Kirsche und anderen – weggefressen, denn in den Knospen im Leittrieb stecken die Nährstoffe, welche das Wild sucht. In manchen Wäldern ist der Wildbestand zehnmal höher als es der Wald aushalten kann. Das zeigen die Verbiss-Gutachten.
Haben alle europäischen Länder dieses Problem?
Das ist ein spezifisches Thema in der DACH-Region: Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hier wurde und wird zugunsten der Trophäenjagd der Wildbestand weniger reguliert als in anderen europäischen Ländern. Wir haben so viele Rehe, Gämse und Rotwild wie nirgendwo sonst. Ein Beispiel, wie es besser gehen könnte, ist Slowenien: Das Land hat einen geringen Verbissdruck auf die Waldverjüngung, da in den Wäldern nicht nur Luchs und Wolf vorkommen, sondern auch eine lange Tradition im nachhaltigen Wildtiermanagement und der naturnahen Waldbewirtschaftung vorherrscht.
Unterscheidet sich das Jagdmanagement nach Regionen?
Die Praktiken und das Jagdmanagement unterscheiden sich stark, je nach Wald-Eigentümer. Beispiel Privatwald: Es gibt einige Besitzer großer Privatwälder, die mit Naturverjüngung arbeiten – also so viel Wild erlegen, damit standortheimische Baumarten nachwachsen – und ihre Wälder schon Jahrhunderte lang nach naturnahen Prinzipien bewirtschaften. Viele Kleinprivatwaldbesitzer stehen den Verbissschäden ohnmächtig gegenüber. Sie haben aufgrund ihrer Waldgröße kein Jagdausübungsrecht und sind Gemeinschaftsjagdrevieren angegliedert. Ihnen bleibt, wenn der Fokus nicht auf der Waldverjüngung liegt, nur die teure Zäunung oder der Einzelschutz ihrer Waldkulturen. Vor dem Hintergrund des Absterbens von über 700.000 Hektar Wald – der Wald ist nach der neuesten Bundeswaldinventur keine Kohlenstoffsenke mehr, sondern eine Quelle – muss nun auch der konservative Flügel des Großprivatwaldes umdenken. Zwei Baumarten und ein Hegemanagement für Rotwild sind kein nachhaltiges Geschäftsmodell mehr.
Wo sind denn die politischen Hebel, etwas zu ändern?
Zwei Gesetze – das Bundeswaldgesetz und das Bundesjagdgesetz –würden den regulatorischen Rahmen schaffen. Es wäre für einen naturnahen Umgang mit unseren Wäldern von enormer Bedeutung, wenn die Erkenntnisse aus den letzten 20, 30 Jahren der ökosystemaren und der ökologischen Schalenwildbejagung in den Gesetzesnovellen adressiert wären. Das ist nun, aufgrund der aktuellen politischen Lage mit dem Ende der Ampelkoalition, allerdings nicht mehr zu erwarten. Die Privatwaldbesitzer, die vom Wald leben müssen und die die Zusammenhänge verstanden haben, setzen sich schon lange für Veränderungen ein. Auch die Landesforsten natürlich. Neben der Gesetzeslage geht es aber auch um das Verständnis der Zusammenhänge. Artenreiche, strukturierte und klimaresiliente Mischwälder gibt es unter den aktuellen Bedingungen leider nicht von alleine. Wir sind allerdings auf alle Funktionen unserer Wälder angewiesen, das betrifft sowohl die ökosystemaren Funktionen wie Erosionsschutz, Trinkwasserfilter und -speicher, die Kühlung in der Landschaft und die Biodiversität als auch die nachhaltige Bereitstellung von Holz für die Gesellschaft. Darum ist es dringend geboten, ideologische Gräben zuzuschütten und mehr Kooperation zu wagen!
Sitzen die Waldbesitzer nicht am längeren Hebel – schließlich müssen sie die Jagd erlauben?
Nein, ihre politische Lobby ist zu schwach. Wer in Deutschland Wald besitzt, hat das Jagdrecht, aber nicht das Jagdausübungsrecht. Kleinere Waldbesitzer müssen sich in einen Gemeinschaftsjagdbezirk begeben und sind abhängig davon, wer diesen leitet und wie. Die Hälfte der Waldflächen in Deutschland sind kleine Privatwälder – und dort ist die Lage größtenteils verheerend, weil es einfach zu viel Wild gibt und die Naturverjüngung ohne Zaun unmöglich ist. In den Landes- und Staatswäldern verschwinden die Zäune nach und nach, weil dort verstärkt gejagt wird. Die Landeswaldgesetze wirken hier positiv. Denn ihr Ziel ist es, den Wald so zu bewirtschaften, dass die standortsheimischen Mischbaumarten auch ohne Zaunschutz gedeihen können.
Welche Rolle spielen eigentlich Wildschweine in dieser Problemlage?
Wildschweine sind für die Waldverjüngung nicht so schädlich, außer Schäden an Eichelsaaten, sondern eher förderlich, weil sie den Waldboden umdrehen und damit Eicheln, Bucheckern und andere Baumsamen einackern. Doch Wildschweine richten massive Schäden in der Landwirtschaft an. Hier gibt es allerdings ein starkes Regulativ. Denn die Jäger müssen den Landwirten für die Schwarzwildschäden Schadenersatz zahlen. Für Schäden im Wald muss der Jäger hingegen meist nicht oder wenig zahlen.
Ist letztere Praxis nicht einfach auf den Wald übertragbar?
Nein, viel effektiver ist die Förderung und nicht die Bestrafung. Ganz wichtig, und das sollte die Basis sein, ist das Verständnis dafür, dass die Waldverjüngung gesamtgesellschaftlich wichtig ist. Wir brauchen den Wald für so viele Dinge: als Erholungsort, als Wasserspeicher, als Biodiversitätsraum, als Kohlenstoffsenke. All dies können nur resiliente, arten- und strukturreiche Wälder auf Dauer leisten. Wir müssen es schaffen, die Wälder ohne Zaun zu verjüngen, die Hauptbaumarten wie Buche, Tanne, Eiche und Ahorn ohne Schutz hochzubringen. Man könnte zum Beispiel Förderungen für den Waldumbau daran koppeln, dass das Jagdmanagement entsprechend angepasst ist – also nur dort gefördert wird, wo auch ein nachhaltiges Jagdmanagement stattfindet. Die kleinen Waldbesitzer müssen dahingehend gestärkt werden, dass die Leitung der Gemeinschaftsjagdbezirke viel stärker der natürlichen Waldverjüngung verpflichtet ist. Nur durch die Kooperation aller gesellschaftlichen Kräfte können wir die Mammutaufgabe des Aufbaus naturnaher und klimaresilienter Wälder stemmen!
Das Gespräch führte Petra Franke.