Pestizidatlas 2022: Die Landwirtschaft muss entgiftet werden
Pestizide schädigen Umwelt und Klima nachhaltig. Der Pestizidatlas der Heinrich-Böll-Stiftung zeigt Daten und Fakten zu den Umweltgiften auf. Die Agrarwende brauche demnach internationale Regeln und grundsätzlich weniger Einsatz von Gift.
14.01.2022 – Pestizide sind aus der industriellen Landwirtschaft heute kaum wegzudenken. Mit ihrer Hilfe konnten Ernteerträge im letzten Jahrhundert enorm gesteigert werden. Doch die gesundheitlichen und ökologischen Schäden sind enorm und seit Jahren bekannt. Für eine ökologische Trendwende müsste Landwirtschaft neu gedacht werden, so die Autoren des Pestizidatlas 2022. Das Kooperationsprojekt von Heinrich-Böll-Stiftung, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) Germany und Le Monde Diplomatique vermittelt einen Überblick über Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft.
Vergiftete Erde
Weltweit steigt der Einsatz von Pestiziden noch immer an. Dabei sei seit langem bekannt, wie weitgehend die Gifte in die Ökosysteme vor Ort eingreifen, heißt es im Pestizidatlas. Klar sei, dass Pestizide der Biodiversität deutlichen Schaden zufügen. Auf langfristig ökologisch bewirtschafteten Flächen wüchsen so zum Beispiel nachweislich 17-mal so viele verschiedene Pflanzen wie kurz nach einer Umstellung auf biologische Landwirtschaft. Sicher sei auch, dass Pestizide grundsätzlich nicht nur auf sogenannte Schädlinge, sondern auch auf nützliche Insekten wirken. Diese würden jedoch gebraucht, um das ökologische Gleichgewicht zu erhalten und um durch Bestäubung direkt zu Ernten beizutragen. Zudem belegten Studien, dass sich viele chemische Giftstoffe nachhaltig in Wasser, Pflanzen und Lebewesen ablagerten.
Zwar müssten Pestizide eine Reihe von Studien und Genehmigungsprozessen durchlaufen, bevor sie zugelassen würden. Das volle Ausmaß der Schäden sei dabei jedoch oft schwer abzuschätzen, so die Autoren des Pestizidatlas. Denn Pestizide wirkten nicht notwendigerweise dort, wo sie ausgebracht würden. Die chemischen Gifte könnten in Wasser und Luft teilweise bis zu 1000 Kilometer weit transportiert werden. Pestizide greifen demnach mit großer Wahrscheinlichkeit viel weitreichender in Ökosysteme ein als bisher bekannt. Indirektere Folgen für Biodiversität und Nahrungsketten oder auch wie sich Kombinationen aus Pestiziden auswirken, würden bei Zulassungsverfahren kaum berücksichtigt.
Auch aus diesem Grund stellte die EU-Kommission inzwischen fest, dass es so nicht weitergehen kann. Bis 2030 soll der Einsatz von Pestiziden EU-weit deshalb um 50 Prozent reduziert werden. Klare Fahrpläne gibt es dazu allerdings noch nicht. Die EU-Länder sind derweil in Bezug auf eine pestizidärmere Landwirtschaft sehr unterschiedlich aufgestellt. In Deutschland gibt es zwar seit Sommer 2021 ein Insektenschutzpaket und Richtlinien zum Bienenschutz. Doch konkrete und weitreichende Ziele zur Reduzierung von Pestiziden gibt es nicht.
Mit zweierlei Maß gemessen
Einer der Gründe für den Erfolg von Pestiziden könnte nicht ihre Nützlichkeit sein, sondern ihre Lobby. Im Pestizidatlas wird der Einfluss der großen Pestizidhersteller Syngenta Group, Bayer, Corteva und BASF skizziert, die 2018 etwa 70 Prozent des wachsenden Weltmarktes für Pestizide hielten. Der Pestizidatlas zeigt dabei auch auf, wie weitreichend die Chemiekonzerne teilweise Einfluss auf Zulassungs- und Genehmigungsverfahren nehmen. Ein inzwischen bekanntes Beispiel ist die EU-Zulassung des von Bayer-Tochter Monsanto hergestellten Totalherbizids Glyphosat, bei der Behörden laut Pestizidatlas Studienauswertungen der Hersteller ungeprüft übernommen hätten.
Doch auch EU-Verbote haben nur einen begrenzten Einfluss, so die Autoren des Pestizidatlas. Europäischen Chemiekonzerne produzierten und exportierten Pestizide, die in der EU aufgrund ihrer gesundheitsschädlichen Eigenschaften bereits verboten wurden, nämlich trotzdem weiter in andere Teile der Welt. Abnehmer seien dann häufig Länder im globalen Süden, die Ackergifte weniger streng regulierten. Dadurch gelangten die Gifte über Lebensmittelimporte auch wieder zurück auf den heimischen Markt. Weltweit komme es zudem jährlich zu 385 Millionen Pestizidvergiftungen. Ein Großteil entfällt dabei auf Landarbeiter im globalen Süden.
Es gebe aber auch ein erstes Umdenken. So dürfen seit Januar 2022 in Frankreich Pestizide weder produziert, gelagert, noch gehandelt werden, die in der EU nicht zugelassen sind. Das französische Verfassungsgericht habe bereits eine Klage der großen Chemiehersteller gegen das Gesetz abgewiesen. Ein Exportverbot hochgiftiger, verbotener Pestizide sei unter EU-Recht demnach möglich. Der Export von fünf besonders giftigen Pestiziden sei seit letztem Jahr auch in der Schweiz verboten. Und auch die neue Ampel-Regierung in Deutschland beabsichtigt laut ihres Koalitionsvertrags das Ende solcher Exporte. Langfristig brauche es jedoch globale Regelungen. jb