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Baustelle EnergiewendeEin möglicher Weg zur Klimaneutralität bis 2045

Orangefarbener Bauhelm liegt auf einem Solarpanel
Baustelle Energiewende – es gibt noch viel zu tun, um Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. (Foto. Kateryna Hliznitsova on Unsplash)

Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu sein. Eine neue Agora-Studie will zeigen, mit welchem Mix an Maßnahmen der weitere Weg sozial ausgewogen gestaltet und die dafür notwendigen Investitionen mobilisiert werden könnten.

17.10.2024 – Drei Viertel der für ein klimaneutrales Deutschland notwendigen Investitionen ließen sich durch das Umlenken von Geldern weg von fossilen Technologien hin zu klimaneutralen Alternativen mobilisieren – das haben die Forschenden in der Studie „Klimaneutrales Deutschland – Von der Zielsetzung zur Umsetzung“ der Agora Thinktanks zumindest so errechnet. Der Gesamtbedarf an Investitionen beträgt demnach bis 2045 jährlich elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wovon der Großteil auch ohne Klimaschutz anstünde: Allein für den Erhalt und die Erneuerung insbesondere von Gebäuden, Industrieanlagen und Verkehrsmitteln werden jährlich massive Investitionen im Umfang von rund acht Prozent des BIP benötigt, die es auf dem Weg zur Klimaneutralität umzulenken gilt, schreiben die Studienautoren. Die darüber hinaus zusätzlich für den Klimaschutz nötigen Investitionen belaufen sich laut Studie von 2025 bis 2045 auf rund drei Prozent des BIP beziehungsweise auf 147 Milliarden Euro jährlich. Der Großteil davon wären private Investitionen, ein Viertel – rund 38 Milliarden – entfielen auf die öffentliche Hand.

Wirtschaftlichkeitsberechnungen

Viele dieser benötigten Investitionen würden sich schon heute mit Blick auf die gesamte Lebensdauer rechnen, so die Meinung der Wissenschaftler. So wären Elektroautos trotz höherer Anschaffungskosten aufgrund der niedrigeren Betriebskosten auf lange Sicht bereits heute günstiger als Benzin- und Dieselfahrzeuge. Auch im Stromsystem können im Agora-Szenario die erforderlichen Investitionen in Erneuerbare Energien und Stromnetze zu rund 90 Prozent aus Markterlösen und Netzentgelten finanziert werden. Gleichzeitig blieben die Kosten des Stromsystems pro Kilowattstunde bis 2030 stabil und würden bis 2045 sogar um ein Fünftel sinken.

Die Agora-Studie liefert damit anhand einer sektorübergreifenden Szenario-Modellierung erstmals eine detaillierte Berechnung der jeweiligen Investitionsbedarfe. Auch ein Maßnahmenpaket ist darin enthalten, um diese Ausgaben möglichst kosteneffizient zu ermöglichen und dabei soziale Teilhabe zu sichern.

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Gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung

„Unser Zukunftsbild ist kein Selbstläufer. Damit es Realität wird, braucht es entschiedene politische Maßnahmen“, sagt Simon Müller, Direktor von Agora Energiewende Deutschland. „Der Weg zur Klimaneutralität erfordert eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung, von der aber alle Teile der Gesellschaft profitieren werden“, sagt Müller.

Die im Szenario beschriebene Entwicklung ist mit einer Reihe weiterer Vorteile verbunden. Demnach sinkt Deutschlands Abhängigkeit von Energieimporten über die kommenden 20 Jahre um 85 Prozent. Unternehmen, die in Schlüsseltechnologien wie Elektromobilität, Erneuerbare Energien und eine klimaneutrale Industrieproduktion investieren, sichern sich dabei langfristig einen Standortvorteil in den globalen Wachstumsmärkten. Die Verkehrs- und die Wärmewende bieten zudem Chancen, die Lebensqualität der Bevölkerung zu verbessern, sind die Studienautoren überzeugt.

Geld nachhaltig verteilen

Um in der Übergangsphase zur Klimaneutralität übermäßige Kostenbelastungen für Unternehmen oder Haushalten zu vermeiden und diese gezielt bei ihren Investitionen zu unterstützen, fällt laut der Studie bis 2030 ein jährlicher öffentlicher Finanzbedarf von 58 Milliarden Euro an. Diese staatlichen Gelder fließen im Szenario überwiegend in Investitions- und Betriebskostenzuschüsse, zum Beispiel im Gebäudebereich oder im Rahmen der Klimaschutzverträge. Zu einem deutlich geringeren Teil würden dadurch auch Ausgleichszahlungen für Haushalte und Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, finanziert. Beispiele dafür wären die Fortführung der Strompreiskompensation und die Einführung gezielter sozialer Ausgleichszahlungen.

Ein Politikmix für eine ausgewogene Klimapolitik

Um die notwendigen Investitionen zu mobilisieren, empfiehlt die Agora-Studie eine Mischung aus vier sich gegenseitig ergänzenden Politikinstrumenten. Preisbasierte Anreize wie die CO₂-Bepreisung verteuern fossile Energien und machen klimafreundliche Technologien dadurch attraktiver. Marktregulierung erlaube es, schädliche Technologien einzuschränken und dadurch klimafreundliche Technologien zu unterstützen. Beide Instrumente sichern jedoch noch nicht die Bezahlbarkeit, konstatieren die Studienautoren.

Um Haushalten und Unternehmen ohne ausreichende finanzielle Mittel den Umstieg auf klimaneutrale Alternativen wie Elektrofahrzeuge zu ermöglichen, brauche es daher finanzielle Unterstützung in Form von Zuschüssen oder zinsgünstiger Finanzierung. Ein zu starker Fokus auf Förderung berge jedoch wiederum das Risiko staatlicher Haushaltsbelastung und Kostenineffizienz. Die vierte zentrale Komponente sieht die Studie beim Ausbau und der Erneuerung nachhaltiger Infrastruktur für Energie und Verkehr, denn diese bildet eine Grundvoraussetzung für einen Umstieg auf klimaneutrale Alternativen.

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Anke Weidlich ist Professorin für Technologien der Energieverteilung und Mitglied der Expertenkommission zum Energiewendemonitoring.

Ein deutlich leistungsfähigeres Stromsystem mit sinkenden Kosten pro Kilowattstunde

Dass Erneuerbarer Strom auf Basis dieser Maßnahmen trotz der Kosten für Netzausbau und regelbare Kraftwerke volkswirtschaftlich bezahlbar ist, wird beim Blick in die Studienergebnisse zum Energiesektor deutlich: Angereizt durch den europäischen Emissionshandel und niedrige Ausbaukosten werden im Szenario die Erneuerbaren Energien als günstigste Erzeugungsform konsequent erweitert. Bis 2045 verfünffacht sich die Erzeugung aus Erneuerbaren Energien von 219 Terawattstunden 2023 auf 1.087 Terawattstunden 2045. Anreize zur Elektrifizierung, wie ein vergünstigter Strompreis für Wärmepumpen und eine Unterstützung der Industrie für die Umstellung, stellen dabei sicher, dass sich Angebot und Nachfrage im Gleichtakt entwickeln. Die durchschnittlichen Kosten dieses Stromsystems bleiben für alle Verbrauchsgruppen in der Folge bis 2030 relativ stabil bei 16 Cent pro Kilowattstunde und fallen bis 2045 auf 13 Cent pro Kilowattstunde.

Zugleich sinkt infolge des Ausbaus der Erneuerbaren Energien die Abhängigkeit von Energieimporten um knapp 85 Prozent: von 2.474 Terawattstunden 2019 auf 391 Terawattstunden 2045. „Strom wird in unserem Szenario zukünftig nicht teurer, selbst wenn der Verbrauch stark steigt“, sagt Müller. „Das ist eine gute Nachricht für Unternehmen und für Verbraucherinnen und Verbraucher. Gleichzeitig stärkt der wachsende Anteil an heimisch erzeugtem Erneuerbaren Strom die Energiesicherheit Deutschlands.“

Klimaschutzinvestitionen von heute sichern Wettbewerbsfähigkeit von morgen

Die in der Studie hinterlegten Investitionen und Maßnahmen schaffen auch die Grundlage dafür, die derzeitige Schwäche der Industrie zu überwinden, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und international wieder eine Vorreiterstellung im Bereich der Zukunftstechnologien einzunehmen, heißt es in der Studie.

Zu diesen Maßnahmen zähle die direkte Elektrifizierung der Prozesswärme in der Industrie, die im Szenario bis 2035 den überwiegenden Teil der dafür bisher genutzten fossilen Energie ersetzen und die Effizienz massiv steigern kann. Bis 2040 sinkt im Szenario der Erdgasverbrauch in der Industrie so auf nahe null, der Stromverbrauch verdoppelt sich gegenüber 2025 auf mehr als 400 Terawattstunden. Für die emissionsintensiven Bereiche Stahl und Beton schlägt die Studie vor, durch die Schaffung grüner Leitmärkte den Umstieg auf klimaneutrale Produktionsmethoden wirtschaftlich attraktiver machen. Hier könne die Bauwirtschaft zum Treiber der Industrietransformation werden, wenn bei der staatlichen Beschaffung solcher Grundstoffe beispielsweise Emissionsgrenzwerte für neue Gebäude gesetzt werden. Darüber hinaus entstehen neue Wertschöpfungsketten, zum Beispiel indem bislang importierte fossile Rohstoffe in der Chemieindustrie durch im Inland nachhaltig angebaute Biomasse ersetzt werden.

„Wir sehen derzeit vor allem eine Krise der konventionellen Geschäftsmodelle. Wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden, um die nötigen klimaneutralen Investitionen in der Industrie auszulösen, wird die deutsche Wirtschaft in vielen wichtigen Zukunftsmärkten wettbewerbsfähig aufgestellt sein“, meint Frank Peter, Direktor von Agora Industrie.

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Die Stärkung von Zukunftstechnologien spielt im Agora-Szenario auch im Bereich der Automobilindustrie eine zentrale Rolle. Dafür braucht es einen starken nationalen Markt für Elektrofahrzeuge und verlässliche Rahmenbedingungen.  Als Schlüssel für die Antriebswende im Straßenverkehr nennt das Szenario eine umfassende und sozial ausgewogene Reform der Steuern und Abgaben, insbesondere die konsequente Ausrichtung von Kfz- und Dienstwagenbesteuerung am CO₂-Ausstoß. Kaufanreize seien am ehesten für kleinere elektrische Fahrzeuge und Gebrauchtwagen sinnvoll, weil dies denen zugutekomme, die sich einen teuren Neuwagen nicht leisten können, gleichzeitig aber auf ein Auto angewiesen sind.

Schließlich gilt es, eine langfristig gesicherte und flächendeckende Investitionsoffensive für den öffentlichen Verkehr und Sharing-Angebote anzustoßen, um auch im ländlichen Raum Mindeststandards für Mobilität ohne privaten Pkw garantieren zu können. So könnte spätestens bis 2040 die Verkehrsleistung im Schienenpersonenverkehr verdoppelt und im ÖPNV um 80 Prozent gesteigert werden, zeigt die Studie. Zusammen mit der Elektrifizierung der Verkehrsmittel eröffne die Verlagerung von Verkehr auf Bus und Bahn neue Möglichkeiten für die Gestaltung des öffentlichen Raums – mit weniger Lärm und Schadstoffbelastung sowie mehr Sicherheit und Attraktivität.

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Klima- und sozialpolitische Herausforderungen stellen sich auch im Gebäudebereich, der bei der Einhaltung der Klimaziele ebenfalls hinterherhinkt. Durch den EU-Emissionshandel sind ab 2027 steigende Preise für fossilbetriebene Heizungen absehbar. Hier sind einerseits gezielte Förderungen notwendig, um allen Haushalten den Umstieg auf klimafreundliche Alternativen zu ermöglichen. Andererseits schlägt die Studie klare ordnungsrechtliche Vorgaben bei der Energieeffizienz von Gebäuden vor, denn Sanierungen machen die Häuser nicht nur hitzeresilienter; sie senken auch den Energieverbrauch und damit die Kosten für ihre Bewohner. Notwendig sei hier jedoch eine gezielte staatliche finanzielle Unterstützung, denn auch wenn sie zu einer Wertsteigerung führen, verfügen nicht alle Haushalte über die Mittel, um die Investitionen zu tätigen. „Wirksame Klimapolitik ermöglicht eine lebenswerte Zukunft für alle. Es ist höchste Zeit, diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe über Parteigrenzen hinweg anzugehen“, sagt Müller. „Mit unserer Studie wollen wir hierzu einen Beitrag leisten.“ na

 

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