Klimaziele – Dekarbonisierung: Industry meets Renewables – Markt und Physik zusammenbringen

Mit der Dekarbonisierung ihres Sektors stehen Wirtschaft und Industrie vor einer Mammutaufgabe. Auf der Tagung des Branchenverbands Watt 2.0 wurde diskutiert, wie die energiewirtschaftliche Transformation trotz großer Herausforderungen gelingen mag.
16.06.2025 – Es ist schon kurios: Je größer der Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromversorgung wird, desto näher man an das Ziel der Klimaneutralität kommt, desto größer werden die Herausforderungen. Es wimmelt nur so von Widersprüchen, die den Umbau in eine klimaneutrale Energieversorgung erschweren. Während im Land zwischen Nord- und Ostsee die Bruttostromerzeugung aus Erneuerbaren Energien schon 170 Prozent erreicht hat, stellt die neue Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche die Chancen sowie die Potenziale der Erneuerbaren Energien in Frage, indem sie behauptet, dass der Umbau eines Industrielandes wie Deutschland allein mit diesen Energien nicht möglich sei.
Deshalb konnte sich der schleswig-holsteinische Minister für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur, Tobias Goldschmidt, es sich in seinem Grußwort auf der gut besuchten Konferenz „Industry meets Renewables“ in Neumünster Anfang Juni auch nicht verkneifen, einen kleinen Seitenhieb in Richtung Berlin zu setzen.
Dabei ist trotz des zügigen Ausbaus vor allem in den Sektoren Wind- und Solarenergie mit Investitionen in Milliardenhöhe die Stimmung sowohl bei den Akteuren, in den Kommunen und in den Reihen in der Wirtschaft alles andere als nur gut. Goldschmidt, Schirmherr der Veranstaltung, konstatierte, dass für Schleswig-Holstein qua geografische Lage die „Physik für den Umbau“ bereits existierte, aber die Energiemärkte bei Weitem noch nicht entsprechend funktionierten. Daher sei die Energiewende alles andere als ein „Selbstgänger“.
Kristin Röschmann, Eigentümerin der Röschmann Landhandel GmbH in Hadenfeld und Vizepräsidentin der IHK zu Kiel, brachte es auf den Punkt: „Den energiepolitischen Forderungen müssen nun auch Taten folgen.“ Ihr eigenes mittelständisches Unternehmen hat einen jährlichen Verbrauch von etwa 100.000 Kilowattstunden (kWh); es verfüge aber bisher noch nicht über einen geeigneten Einspeisepunkt ins Stromnetz, bei dem man optional die Solarenergie auf dem Dach, über deren Bau man schon seit Längerem nachdenke, bei fehlendem Eigenverbrauch auch einspeisen könne. „Kleinvieh macht aber auch Mist“, hob Röschmann dezentrale Konzepte hervor, „aber wir brauchen den Strom mehr im Winter als im Sommer. Wenn wir den Strom aus dem Sommer sinnvoll speichern könnten, dann wäre uns schon viel geholfen. Zudem: Wir brauchen Versorgungssicherheit bei bezahlbaren Strompreisen.“
Echter grüner Strom gefragt
Diese Aussage schwebte über den ganzen Konferenztag des Branchenverbandes Watt 2.0in Neumünster. Angesichts dessen ist es doch sehr unverständlich, dass bereits bestehende Potenziale nicht (vor Ort) genutzt werden. „Da haben wir noch große Defizite“, räumte denn auch Anja Neubert als Vizepräsidentin der Vereinigung der Unternehmensverbände in Hamburg und Schleswig-Holstein e. V. (UV Nord) auf dem Podium ein. Ihr Credo: Wenn der grüne Strom schon da ist, sollten auch Unternehmen und Konsumenten in der Region davon profitieren sollen.
Und genau dies ist auch das Anliegen vom Branchenverband Watt 2.0 und seinen Mitgliedsunternehmen, unterstrich Torge Wendt von Nordgröön aus Meldeby und fügte hinzu: „Wir sehen, dass das Interesse in den Unternehmen da ist, sie wollen echten grünen Strom und sie wollen keinen grün gelabelten Strom aus Gaskraftwerken.“ Indessen sieht Wendt aber unter den gegebenen energiepolitischen Marktgegebenheiten „große Probleme auf uns zukommen, wenn wir all electric wirklich wollen.“
Dabei sparte Prof. Dr.-Ing. Michael Sterner vom Nationalen Wasserstoffrat nicht mit Lob am energiepolitischen Kurs der Kieler Landesregierung. Sie sei vernünftig, pragmatisch. Auch Sterner sei für Strompreissenkungen, für modale Strompreise, die am Ende Physik und Markt sinnvoller Weise näher zusammenbringen. Die technischen Lösungen in Form von Speichern, von Sektorenkoppelungen und so weiter seien bereits alle vorhanden. Am Ende werde das Netz dann auch stabiler. „Es ist Quatsch, jede Kilowattstunde aus Offshore-Windparks per Hochspannungsleitung nach Frankfurt zu schicken“, kritisierte der Energie-Experte. „Es wäre besser, daraus vor Ort Wasserstoff zu erzeugen. Ich bin eine Fan von regionalem Wasserstoff.“ Sterner mahnte jedoch an, dass auch Speicher- und Netzausbau parallel forciert werden müssten; vielleicht sollte es auch die Einrichtung von Strompreiszonen geben, denn erneuerbarer Strom sei eben auch Teil der deutschen Industriepolitik.
Problem mit den Strompreisen
Während sich nun landauf und landab Gemeinden wie auch Hausbesitzer den Kopf zerbrechen, wie sie alsbald an grüne Wärme kommen werden, fallen die Strompreise an den Börsen mehr und mehr in den Keller. In Phasen von viel Wind und Sonne hagelt es sogar, Tendenz weiter steigend, negative Strompreise. Wenn man so will, ist der Strom über viele Stunden hinweg gar nichts mehr wert. Das ist eine Entwicklung, die bei hohen Strompreisen für Unternehmen wie auch Konsumenten, nicht im Sinne der Erzeuger, aber auch nicht der Energiewirtschaft selbst, gewollt sein kann.
Im Zusammenhang mit zunehmenden negativen Börsenpreisen für Strom schmetterte Ove Petersen, Chef des EE-Unternehmens GP Joule aus den Reußenkögen, auf der Konferenz den Vorwurf ab, dass die Erneuerbaren die Preistreiber seien. Das Gegenteil sei doch der Fall. Allerdings gestand Petersen selbstkritisch ein, dass es in der Vergangenheit auch Versäumnisse in den eigenen Reihen gegeben habe. „Wir dürfen uns nicht zu sehr auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ausruhen, wir müssen uns auch mehr um eine innovative Energieversorgung kümmern“, blickt Petersen nach vorne. Er will die gegenwärtige „Krise als Chance wahrnehmen“.
Zumal es noch viel zu tun gibt, denn nach wie vor ist der Energiekonsum sehr unelastisch, mit anderen Worten überhaupt nicht flexibel. Petersens Forderung: Neben Speicherausbau muss auch der Verbraucher mehr in das Energiesystem der Zukunft integriert sein. Je smarter und flexibler sein Stromverbrauch, desto besser fürs Gesamtsystem.
Emissionen reduzieren, substituieren, kompensieren, eliminieren
Ein Dutzend Vorträge aus sehr unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen gaben den Konferenz-Teilnehmer:innen einen umfassenden Eindruck über vielfältige Anstrengungen, wie denn die Transformation in eine Welt ohne fossile Energien derzeit vorangetrieben wird. Von der Brauerei (Krones AG) bis zum Flughafen. Die Devise ist vielschichtig: Reduzieren, Substituieren, Kompensieren, Eliminieren.
„Wir haben bereits jetzt 80 Prozent der Emissionen reduziert“, so Julian Klaaßen von der Flughafen Hamburg GmbH. Und Frank Stocker von der Edeka Versorgungsgesellschaft mbH verriet, dass Edeka rund vier Terrawattstunden Strom pro Jahr verbraucht. Angesichts dieser gewaltigen Zahl baue das Unternehmen mit seinen Geschäftspartnern die Photovoltaik auf den Dächern der Supermärkte kontinuierlich weiter aus. „Dabei haben wir kein großes Interesse an Netzeinspeisung“, bekannte Stocker, weshalb der PV-Ausbau mit der Installation von Batteriespeichern parallel läuft. Klingt einfach, aber am Ende ist das alles komplexer als man denke – sowohl vom Netzanschluss, als auch von der Batterie selbst.
Kurzum: Die Energiewende, die „Dekarbonisierung“, ist wahrlich kein „Selbstgänger“, sondern eine Mammutaufgabe aller Beteiligten. Nur gemeinsam wird sie wohl gelingen. Dierk Jensen