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EnergiekriseKernkraftwerke statt Erdgas? (Teil 1)

grauer und neongrüner Frosch nebeneinander auf einem Stein
Gas und Kernkraft sind keine beliebig austauschbaren Energiequellen. (Foto: Pxhere / CCO)

Fakten zu Gasimporten aus Russland, die Arbeitsweise der Gaskraftwerke hierzulande und eine ganze Reihe von K.O.-Kriterien für die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken hat ein Autorenteam des Öko-Institutes übersichtlich aufbereitet.

24.03.2022 – Fragen zur Versorgungssicherheit mit Energie, zu Abhängigkeiten von Russland und zu den steigenden Preisen bewegen die Menschen. Ein Autorenteam vom Öko-Institut hat eine Faktensammlung erstellt, die Antworten auf die derzeit brennenden Fragen liefert. Im ersten Teil werden Fragen zum Gasimport, zur Stromerzeugung in Gaskraftwerken und zu Bedingungen der Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken beantwortet. Im zweiten Teil geht es um die Abhängigkeit von Russland im Bereich der Kernenergie.

Wie viel Erdgas importieren wir derzeit aus Russland und wo kommt es zum Einsatz?

Im Jahr 2020 importierte Deutschland netto rund 860 Terawattstunden (TWh) Erdgas. In den Jahren zuvor lag der Wert eher um die 1.000 TWh und darüber. 2020 stammten dabei etwa zwei Drittel des importierten Erdgases – rund 570 TWh – aus Russland. In den Jahren zuvor ist der Anteil stetig angestiegen und lag dabei im Mittel bei rund 50 Prozent. Der Hauptanteil des in Deutschland benötigten Erdgases wird direkt verbrannt, etwa um Gebäude zu heizen oder um hohe Temperaturen bei der Lebensmittel- oder in der Chemieproduktion zu erzeugen. Lediglich rund 19 Prozent – 188 TWh – des Erdgases wird benutzt, um daraus Strom zu erzeugen.

Können wir Erdgas ersetzen, indem wir die Kernkraftwerke länger laufen lassen?

Der Großteil des Erdgases, das in Gebäuden für die Wärmeerzeugung oder als Prozessgas in der Industrie eingesetzt wird, kann nicht durch Kernkraftwerke ersetzt werden. Denn: Von den 188 TWh die wir in Deutschland zur Gasverstromung nutzen, entfallen circa 120 TWh auf Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK), die nicht nur Strom, sondern auch Fernwärme für Heizung und warmes Wasser oder Prozesswärme für die Industrie erzeugen. Die Kernkraftwerke würden höchstens die Stromerzeugung ersetzen, nicht aber die Wärmeproduktion. Die KWK-Anlagen können die Kernkraftwerke nicht ersetzen.

De facto verbleibt damit von den 188 TWh Stromerzeugung aus Erdgas ein Segment von rund 70 TWh aus Gaskraftwerken, die nur Strom produzieren und welches theoretisch ersetzt werden könnte. Das entspricht etwa einem Zehntel des gesamten aus Russland importierten Erdgases. Doch diese Gaskraftwerke haben eine besondere Funktion im Energiemarkt und für die Stromnetze. Denn sie springen sehr flexibel ein, wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint und gleichen eine mögliche Stromlücke kurzfristig aus. Kernkraftwerke sind für solche flexiblen Einsätze nicht geeignet, da sie nicht oder nur sehr begrenzt innerhalb von wenigen Minuten hoch- und heruntergefahren werden können. Die Funktionen der Gaskraftwerke für die Stabilisierung der Stromversorgung können Atomkraftwerke ebenfalls nicht ersetzen. In einem aktuellen Kurzpapier des BDEW zu kurzfristigen Substitutions- und Einsparpotenzialen von Erdgas in Deutschland werden verschiedene Optionen zur Reduktion des Erdgasverbrauchs in den verschiedenen Sektoren untersucht. Im Stromsektor wird hier neben der marktgetriebenen Reduktion der Erdgasverstromung auch die Option einer Laufzeitverlängerung von AKWs untersucht. Die Studie weist für diesen Fall eine Reduktion der Stromerzeugung aus Erdgas um rund 3 TWh aus. Bei einem Wirkungsgrad der Erdgas-Anlagen von 50 Prozent würde das einer Einsparung von 6 TWh Erdgas entsprechen.

Unser Zwischenfazit: Als Ersatz für die Stromerzeugung aus Erdgas sind die Kernkraftwerke nicht geeignet.

Welche weiteren Probleme ergäben sich für den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke?

Davon abgesehen, dass der Atomausstieg gesetzlich festgeschrieben und damit nicht ohne weiteres rechtlich zu ändern ist, gibt es weitere Hürden, die einen Weiterbetrieb erschweren. Dazu gehören:

  • Nicht ausreichend verfügbare Brennelemente: Die Menge der in den Kernkraftwerken eingesetzten Brennelemente ist für einen Betrieb bis zum 31.12.2022 optimiert. Danach ist die Brennstoffmenge verbraucht; neue Brennstoffe wurden nicht beschafft. Die Neu-Beschaffung von Brennelementen nimmt circa eineinhalb bis zwei Jahre in Anspruch. Rein physisch ist eine kurzfristige Laufzeitverlängerung damit ausgeschlossen und die Strommenge, die noch von den Reaktoren erzeugt wird, festgelegt.
  • Ausstehende Sicherheitsüberprüfungen: Bei den drei noch laufenden Kernkraftanlagen, wäre im Jahr 2019 die alle zehn Jahre notwendige periodische Sicherheitsüberprüfungen fällig gewesen. Im Atomausstiegsgesetz wurde eine Ausnahmeregelung für Anlagen, die bis 31.12.2022 ihren Betrieb einstellen, eingeführt und die Überprüfung ausgesetzt. Würden die Anlagen über den bisher festgelegten Zeitpunkt hinaus betrieben werden, müsste die entsprechenden Überprüfungen durchgeführt werden, damit ein Weiterbetrieb genehmigt werden könnte. Dies wäre auch mit eventuell erforderlichen Nachrüstungen verbunden. Auch in diesem Fall würden die Anlagen bis zur Erfüllung der Nachrüstung möglicherweise für längere Zeiträume stillstehen.
  • Fehlende Rechtsgrundlage und Genehmigungen: Die Kernkraftwerke, die am 31.12.2022 stillgelegt werden sollen, können auf Basis des Atomgesetzes nicht länger betrieben werden. Hier müsste das Atomgesetz mit der Befristung geändert, neue Strommengen zugewiesen und neue Genehmigungen erteilt werden. Eine Gesetzesänderung müsste eine Risikoabwägung beinhalten, die nun auch die zusätzlichen Risiken eines Krieges in Europa in die Bewertung einbeziehen müsste.
  • Offene Frage der Übernahme der Haftungsrisiken: Es stellt sich auch die Frage, wer die Haftung für den Weiterbetrieb der Anlagen übernimmt. Es ist schwer vorstellbar, dass die Anlagenbetreiber bereit sind, die Risiken zu tragen. Die Bundesregierung müsste daher kaum kalkulierbare Risiken übernehmen.
  • Mangelnde Personalverfügbarkeit: Für den Weiterbetrieb der Anlagen muss entsprechend geschultes und geprüftes Betriebspersonal vorgehalten werden. Um einen Betrieb über das bisher festgelegte Datum vom 31.12.2022 hinaus durchführen zu können, müssten somit erneut die notwendigen Prüfungen vom Personal abgelegt werden. Für neues Personal ist aber eine mehrjährige Fachkundeausbildung notwendig. Auch die atomrechtlichen Genehmigungsbehörden und ihre Gutachterorganisationen haben ihr Personal reduziert, das heißt auch hier fehlt das Fachpersonal.
  • Fehlende Ersatzteile: Wegen der bevorstehenden Abschaltung, haben die Atomkraftwerke ihre Ersatzteilhaltung reduziert. Die Nachbeschaffung könnte schwierig sein, weil es die Hersteller eventuell nicht mehr gibt, weil das Embargo gegenüber Russland gilt oder wegen der bekannten Lieferkettenprobleme.
  • Hohe ökonomische Kosten: Es würde daher lange dauern, den Betrieb wieder zu reaktivieren und es müsste noch einmal viel Geld in die Reaktoren investiert werden, ehe sie dann doch stillgelegt werden. Dieses Geld ist in anderen Bereichen der Energieversorgung wesentlich sinnvoller angelegt. Auch Kosten für die Haftpflichtversicherungen für einen verlängerten Betrieb fallen an. Bis zur Beschaffung neuer Brennstoffe sowie für die Sicherheitsprüfungen und möglicherweise erforderliche Nachrüstungen müssten die Reaktoren erst einmal ab Januar 2023 über eine längere Periode heruntergefahren werden.
  • Teillastbetrieb zur Verschiebung von Strommengen in den nächsten Winter: Man könnte die Kernkraftwerke nur dann ein paar Monate im Winter 2023 länger laufen lassen, wenn sie im Jahr 2022 ihre Stromproduktion drosseln würden. Dazu müsste man aber bald recht deutlich die Stromproduktion herunterfahren, zum Beispiel in den Sommermonaten auf 50 Prozent, damit dann noch etwas Brennstoff im nächsten Winter übrig ist. Allerdings sind die Strommengen, die im Sommer erzeugt werden sollen, bereits verkauft und die AKW-Betreiber müssen den Strom auch liefern. Sie müssten dann Strom kurzfristig teuer einkaufen, um die Lieferverpflichtungen im Sommer zu erfüllen. Dies könnte zu hohen zusätzlichen Kosten führen. Der im Sommer 2022 zugekaufte Strom käme wahrscheinlich nach dem Merit-Order-Prinzip aus Kohlekraftwerken. In einer Situation ohne Streckbetrieb Anfang 2023 würden ebenfalls Kohlekraftwerke das fehlende Gas kompensieren. Klimapolitisch wäre ein solcher Streckbetrieb daher ein Nullsummenspiel, aber eines mit sehr hohen Kosten.

Unser Fazit ist deshalb: Wir brauchen die Kernkraftwerke nicht, weil sie die Funktionen der Gaserzeugung nicht ersetzen können. Die Verlängerung von Laufzeiten ist kurzfristig technisch unmöglich, eine mittelfristige Verlängerung der Stromproduktion braucht circa eineinhalb bis zwei Jahren Vorlaufzeit. Diese mittelfristige Verlängerung wäre extrem teuer und mit hohen Sicherheitsrisiken und hohem Verwaltungsaufwand verbunden und es wird sich wahrscheinlich niemand finden, der bereit ist, die Haftungsrisiken zu übernehmen.

Lesen Sie Teil 2 der Faktensammlung. Darin geht es um die Abhängigkeit von Russland bei der Kernenergie.

Das Autorenteam

Anke Herold ist Geschäftsführerin des Öko-Instituts. Sie war Verhandlungsführerin für die EU bei den internationalen Klimaverhandlungen unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC). Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die internationale, europäische und nationale Klimapolitik. Dr. Roman Mendelevitch ist Experte für Energiesystem- und Strommarktmodellierung am Berliner Standort des Öko-Instituts. Er entwickelt Szenarien zur zukünftigen Stromerzeugung und entwirft marktbasierte Instrumente der Klimapolitik. Dr. Christoph Pistner leitet den Bereich Nukleartechnik & Anlagensicherheit am Öko-Institut. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung von kerntechnischen Anlagen. Er ist zudem stellv. Vorsitzender der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.

 


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