Forschungszentrum Jülich: Wege zum Netto-Null-Energiesystem in Deutschland
Ein treibhausgasneutrales, erneuerbar basiertes Energiesystem in Deutschland bis 2045 ist möglich, so eine Studie des Forschungszentrums Jülich. Sie konstatiert eine weiterhin hohe Akzeptanz für die Energiewende und positive Beschäftigungseffekte.
20.11.2024 – Strom aus Windkraft und Photovoltaik wird künftig mit über 90 Prozent den größten Anteil an der Stromversorgung haben, so die Jülicher Forscherinnen und Forscher. Um die Kosten für den notwendigen Ausbau der Erneuerbaren Energien zu minimieren, müsse dieser an die regionalen Gegebenheiten angepasst werden. „So können die Potenziale jeder Region optimal genutzt und gleichzeitig die Versorgungssicherheit gewährleistet werden“, betont Detlef Stolen, Leiter der Jülicher Systemanalyse.
Elektrolyseure zuerst in den Küstenregionen
Norddeutschland verfüge über große Windressourcen. Deshalb werde dort die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien überproportional zunehmen und neue Energiezentren entstehen. Um diesen Standortvorteil zu nutzen, müsse der Strom jedoch flexibel genutzt werden können, betont die Studie „Wege zum Netto-Null-Energiesystem: Regionale Lupe auf Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft“. Es wäre sinnvoll, den Aufbau von Elektrolyseanlagen zur Wasserstoffproduktion zunächst in den Küstenregionen voranzutreiben.
Der Aufbau einer Wasserstoffproduktion in den südlichen und östlichen Bundesländern würde in einer späteren Phase der Transformation folgen, um den steigenden Wasserstoffbedarf decken zu können. Rund zehn Prozent der deutschen Elektrolysekapazität werden sich laut Studie zukünftig in diesen Regionen befinden. Diese regionale Verteilung ermögliche eine geringe Abregelung Erneuerbarer Energien.
Umnutzung der Erdgasinfrastruktur für Wasserstoff
Damit alle Regionen Deutschlands profitieren können, ist ein Ausbau des Stromnetzes notwendig - besonders wichtig für die Versorgung der energieintensiven Industriezentren in Nordrhein-Westfalen und im Rhein-Neckar- und Rhein-Main-Gebiet. Würde sich der Netzausbau verzögern, könnte weniger Offshore-Strom abgenommen werden. Dies müsste dann kompensiert werden: durch den verstärkten Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur, den Erneuerbaren Energien an Land, von Stromspeichern und Rückverstromungskraftwerken. In diesen Bereichen wären dann zusätzliche Investitionen von rund acht Prozent notwendig.
Ein weiterer zentraler Aspekt sei der Ausbau des Wasserstoffnetzes, um heimische Produktion, Importe, Verbraucher und Speicher optimal zu vernetzen. Bis 2045 sind dafür laut Studie rund 18.000 Kilometer Leitungen notwendig. Diese müssten aber nicht neu gebaut werden. Der Bedarf an Erdgas wird zurückgehen, so dass die bestehende Leitungsinfrastruktur auf Wasserstoff umgestellt werden kann.
Strom, Biomasse und Wärmespeicher für grüne Fernwärme
Die Dekarbonisierung der Fernwärme erfolgt nach der Simulation der Jülicher Systemforschenden vor allem durch Strom und Biomasse in Kombination mit Wärmespeichern. Biomasse und Biogas kommen dabei in ländlicheren Gebieten zum Einsatz, Strom in den Ballungszentren. Wärmepumpen und Wärmespeicher bringen die PV-Erzeugung mit dem Wärmebedarf in Einklang.
Die Versorgungssicherheit in Zeiten von Dunkelflauten und geringerer Stromproduktion aus Wind und Sonne kann laut Studie durch flexible Kraftwerke gewährleistet werden - auf Basis von Wasserstoff, Biogas und Biomasse.
Ein Großteil der Wasserstoff-Kraftwerkskapazitäten wird in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen in unmittelbarer Nähe zu Wasserstoffspeichern in Salzkavernen entstehen. Im Jahr 2030 werden es gut die Hälfte aller Kapazitäten sein, im Jahr 2045 zwei Drittel. Der aus Wasserstoff erzeugte Strom kann über das Stromnetz in den Süden transportiert werden. Um die nötige Flexibilität und Sicherheit im System zu gewährleisten, sei eine umfassende Wasserstoffspeicherung einschließlich der Umrüstung bestehender Kavernenspeicher und des Neubaus von Salzkavernen notwendig, so Institutsleiter Stolten.
Positive wirtschaftliche Effekte überwiegen
Die Transformation zur Treibhausgasneutralität birgt laut Studie sowohl Chancen als auch Risiken für die wirtschaftliche Entwicklung. Insgesamt überwiegen jedoch die positiven Effekte, so die Studie. Insgesamt sei in allen Regionen Deutschlands mit einem Beschäftigungswachstum gegenüber heute zu rechnen, da die Nachfrage in den verschiedenen Sektoren steige. Ein höheres Risiko für Arbeitsplatzverluste sieht die Studie bei der Transformation in der Automobil- und Metallindustrie, ein geringes Risiko in der Elektroindustrie sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen.
Die Kosten für den Umbau des Energiesystems auf Netto-Null bis 2045 beziffern die Jülicher Systemforscherinnen und -forscher auf etwa 1,2 Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts. Klar sei aber, dass die Folgekosten durch auftretende Schäden und negative Auswirkungen sowie die Kosten für Klimaanpassungsmaßnahmen bei unterlassenen Investitionen in den Klimaschutz deutlich höher ausfallen würden, betonte Stolten bei der Vorstellung der Studie am vergangenen Freitag (15. November) in Berlin. Sie baut auf einer Ende Oktober vorgestellten Studie des Forschungszentrums Jülich zur europäischen Energiewende auf.
Breite Akzeptanz für PV und Windkraft
Die Jülicher Systemforscherinnen und -forscher sehen eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz für die Energiewende und haben dazu verschiedene repräsentative Umfragen ausgewertet. Sowohl der Ausbau der Windenergie als auch der Photovoltaik stoßen demnach in allen Regionen auf breite Akzeptanz, wobei die Photovoltaik die Nase vorn hat. Auch der Ausbau der Wasserstofferzeugung mit Elektrolyseuren wird von der Bevölkerung befürwortet, wobei die Akzeptanz in Deutschland höher ist als in der Nachbarschaft".
Hans-Christoph Neidlein