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Die Meinung
04. Mai 2021

Die Rache der Umlaufmappe

Mit der Corona-Pandemie ist vielen zum ersten Mal klar geworden, dass in Deutschland etwas nicht stimmt. Die Faxgeräte der Gesundheitsämter entlarvten schonungslos eine alte, ineffiziente und realitätsferne Verwaltung. Plötzlich waren wir nicht mehr Weltmeister. Droht als Nächstes die Verkehrswende durch die Verwaltung im Keim erstickt zu werden?

Ragnhild Sørensen vom Netzwerk Changing Cities e.V.

Ragnhild Sørensen vom Netzwerk Changing Cities e.V.
Profilbild von Ragnhild Sørensen
(Foto: © Norbert Michalke)

„Red tape“ nennen die Amerikaner verkrustete Verwaltungsstrukturen und verweisen damit auf das rote Band, das Verwaltungsakten zusammenhält. In Deutschland ist die Umlaufmappe das Symbol einer Systematik, deren regelgebundener Ablauf das Ergebnis verwalterischen Handelns überschattet.

Als im März 2020 der erste Lockdown kam und auch die Berliner Verwaltung ins Home Office ausweichen musste, konnte nur ein Bruchteil (März 2020: etwa 12 Prozent, Ende 2020: 33 Prozent) der 85.000 in der Berliner Verwaltung tätigen und für Homeoffice geeigneten Mitarbeiter*innen weiterarbeiten. Die Umlaufmappe entpuppte sich als ungeeignet, wenn sich die Bearbeiter*innen nicht am zuständigen Schreibtisch befanden. Effizienz sieht anders aus.

Auch das Berliner Mobilitätsgesetz war natürlich davon betroffen. Aber die Pandemie als Ursache für die zögerliche Umsetzung anzugeben, greift definitiv zu kurz. Die Umsetzung des Gesetzes, das ohne die Zivilgesellschaft nie zustande gekommen wäre, ist heute kaum einen Schritt weiter als 2018, als das Gesetz verabschiedet wurde. Umgerechnet benötigt die Berliner Verwaltung mit der bisherigen Behörden-Geschwindigkeit 200 Jahre, um das Gesetz umzusetzen.

Was läuft schief?

Es gibt eine Art unsichtbare Mauer: Gutachten müssen nachweisen, dass eine vielbefahrene Straße für Fußgänger*innen und Radfahrende gefährlich ist, um z.B. einen  Pop-Up-Radweg einrichten zu können. Mit Verkehrszählungen muss der Bedarf an Radinfrastruktur im Stadtzentrum nachgewiesen werden. Ein möglicher Zebrastreifen vor einer Schule wird erst jahrelang geprüft, um sicher zu stellen, dass er den Kfz-Verkehr nicht beeinträchtigt. Das Allerheiligste – Stellplätze für Pkw – wird so gut wie nie angefasst.

Seit drei Jahren gibt es nun das Mobilitätsgesetz, das den Vorrang für Fuß-, Rad und öffentlichen Nahverkehr bei allen Planungen und Maßnahmen vorsieht. Trotzdem agiert die Verwaltung weiterhin, als gäbe es diesen Beschluss nicht.

Das liegt sicherlich zum einen am verschleppten Radverkehrsplan. Dieser hätte im Sommer 2020 fertig sein müssen, nun ist eine Verabschiedung in dieser Legislatur nahezu unmöglich. Der Senat prüft derzeit, ob eine sogenannte strategische Umweltprüfung erforderlich ist, danach muss es in allen Senatsverwaltungen mitgezeichnet werden.

Der Radverkehrsplan ist für Bezirks- und Senatsverwaltung maßgeblich, da er Standards sowie zeitliche und örtliche Priorisierungen festlegt bzw. festlegen sollte. Für Planer*innen gilt nicht nur ein Gesetz als Anweisung für ihr Handeln, sondern die nachrangigen Präzisierungen stellen ihren konkreten Arbeitsauftrag dar. Ohne einen präzisen Radverkehrsplan kommt Verwaltungshandeln also kaum in die Gänge.

Nach einer Periode von Sparzwang und Personalabbau steht der Verwaltung im Radverkehrsbereich neues Personal zur Verfügung. 80 neue Stellen wurden berlinweit geschaffen. Das ist gut, aber in den Bezirken und im Senat arbeiten nach wie vor Menschen, deren Arbeitsalltag traditionellerweise vor allem durch Absicherung bestimmt ist.

Das heißt: Statt pragmatisch und ergebnisorientiert zu arbeiten und seine Energie in einen effizienten Prozess zu investieren sorgt man eher dafür, dass man nichts falsch macht – denn in einem stark von Hierarchien bestimmten System bedeutet das Ärger. Das bremst auch neue, motivierte Mitarbeiter*innen aus.

Es herrscht eine Art strukturelle Verantwortungsdiffusion: Die Verteilung der Zuständigkeiten ist kleinteilig auf vielen Schultern verteilt, sodass letztendlich niemand für den Gesamtprozess verantwortlich gemacht werden kann. Regelbindung wird belohnt, Innovation, Out-of-the-Box-Denken oder Experimentierfreude gelten als riskant.

Für einen Arbeitsplatz, der sich auf solche Werte stützt, ist ein Paradigmenwechsel wie z.B. das Mobilitätsgesetz eine extreme Herausforderung. Eine Verwaltung, die seit 70 Jahren immer nur die Stadt autogerecht geplant hat, muss Mobilität komplett neu denken – und dazu noch relativ zügig umsetzen. 

Der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums schreibt in einem Gutachten vom April 2021, dass „Deutschland sich in der öffentlichen Verwaltung Strukturen, Prozesse und Denkweisen [leistet], die teilweise archaisch anmuten“. Die Rede ist sogar von „verschiedenen Formen von Organisationsversagen“. Nicht Geld sei das Problem, sondern die Verantwortungsstruktur und das Mindset.

Nun muss man fairerweise sagen, dass das Versagen ja zustande kommt, weil sich die Gesellschaft schneller als die Verwaltung geändert hat; die beiden passen nicht mehr zusammen. Im Bereich Digitalisierung ist dies überdeutlich, aber nicht nur hier.

Beispiel A100: Die Berliner Stadtautobahn samt 16. und 17. Bauabschnitt geht auf Pläne zurück, die aus dem Jahre 1958 stammen, also über 60 Jahre alt sind. Als Bürger*in würde man annehmen, dass eine solche Planung den heutigen Anforderungen angepasst wird und Faktoren wie Klimaschutz oder Verhaltensänderungen (das Auto ist heute nur an 25 Prozent der Wege in Berlin beteiligt) berücksichtigt.

In Anbetracht der Tatsache, dass wir aufgrund der Klimakrise langfristig mit viel weniger Autos auskommen müssen, ist eine Stadtautobahn völlig anachronistisch und kontraproduktiv. Die Wissenschaft hat schon lange eindeutig belegt, dass mehr Straßen zu mehr Autoverkehr führen. Das beweist, wie realitätsfern die Fertigstellung einer Stadtautobahn in der heutigen Zeit ist.  

Auch die Kommunikation muss stimmen

Im April 2021 präsentierte die Senatsverwaltung voller Stolz eine Fuß- und Radfahrer*innenbrücke in Marzahn als Teil der Mobilitätswende. Diese Art der Kommunikation zeigt beispielhaft die Abwesenheit einer Fehlerkultur. Denn durch die Trennung der Verkehrsarten der Tangentialverbindung Ost (TVO) wird vor allem der Verkehrsfluss des motorisierten Individualverkehrs auf unzähligen Spuren und Ebenen gesichert.

Niemand erwähnt, dass eine solche Planung aus 2014 den Anforderungen des 2018 verabschiedeten Mobilitätsgesetzes nicht gerecht wird. Aber statt dies zuzugeben, wird die TVO lieber als erfolgreicher Teil der Verkehrswende verkauft, denn es schwebt ja eine Fuß- und Radbrücke wie ein Heilsbringer darüber. Mit dieser Sturrheit gewinnt man nicht die Herzen der Bürger*innen, die die Berliner Verwaltung dringend für ihr Vorhaben benötigt.

Was kann moderne Verwaltung?

Es gibt durchaus Menschen, die mit großem Eifer und Ehrgeiz verwalterische Verantwortung übernehmen, um die Transformation der Verwaltung und die Verkehrswende voranzutreiben. Ohne sie hätten wir in Berlin z.B. keine Pop-Up-Radwege. Pragmatische Lösungssuche, schnelle Reaktion, parallele Abstimmung mit vielen Beteiligten/ Stakeholdern auch in der Zivilgesellschaft und schlichtweg Mut waren die Voraussetzungen für dieses effiziente Verwaltungshandeln. 

In vielen Ländern hat in den letzten Jahrzehnten das New Public Management (NPM) Einzug gehalten: Hier versucht man mit privatwirtschaftlichen Managementtechniken die öffentliche Verwaltung auf Vordermann zu bringen. Verwaltungshandeln wird dabei in messbare Leistungseinheiten zerlegt. Eine unbeabsichtigte Folge ist eine teils überbordene Bürokratie, denn jede*r einzelne Mitarbeiter*in muss seine*ihre Leistung für die Controller*innen minuziös kartografieren.

Diese neoliberale Effektivisierung hat die Verwaltungen zwar teils „günstiger“ gemacht - dabei spielten auch Privatisierungen eine große Rolle - , die Monetarisierung der administrativen Aufgaben sind jedoch oft nicht effizient: Ein Kranker wird nicht zwingend schneller gesund, wenn der Pfleger seine Arbeitsschritte kleinteilig belegen muss. Es zeigt sich, dass Verwaltung doch weit mehr als die Summe seiner Einzelteile ist und das NPM hat auf mehreren Ebenen nicht die hohen Erwartungen erfüllt.

Die Erfahrungen aus dem NPM fließen in das Konzept des New Public Governance ein, das statt Kontrolle und Wettbewerb Vertrauen und Kooperation in den Vordergrund rückt. Denn fest steht, dass Innovationsfähigkeit in einer sich rasch wandelnden Gesellschaft ein wichtiger Faktor für den Erfolg verwalterischen Handelns wird.

Kurz: Mit Kontrollen, Arbeitstempointensivierung und Sparmaßnahmen werden wir die Folgen der Klimakrise nicht bewältigen können. Komplexe Dilemmata müssen zukünftig gelöst werden, während der wichtigste Zweck der Bürokratie, nämlich Stabilität und Berechenbarkeit, nicht innovationshemmend wirken darf. Es bedarf dafür eines umfassenden Change Managements mit klaren Zielen, um komplexe gesellschaftliche Veränderungen wie die Verkehrswende herbeizuführen. 

Manchmal sind diese Veränderungen gar nicht schwer. Der Rostocker Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen bewies es in einem Interview im ZDF am 7. Februar: „Rostocks Erfolg [in der Pandemie] baut eigentlich darauf, dass wir ein sehr starkes Gesundheitsamt haben.“ 

Die politische Führung macht ihre „starke“ Verwaltung zur Voraussetzung für den Erfolg. Diese Wertschätzung und das ausgesprochene Vertrauen legen den Grundstein für effizientes Handeln; hier wird in Möglichkeiten gedacht.

Das vielleicht größte Hindernis für die Mobilitätswende steckt aber im Mindset. Wie beantwortet eine Verwaltung die Frage: Wem gehört die Straße? 1,43 Mrd. will der nationaler Radverkehrsplan 3.0 für Radverkehr ausgeben, eine einmalig hohe Summe. Aber wir dürfen nicht vergessen: Allein für die Fertigstellung des 16. Bauabschnittes der Stadtautobahn A100 in Berlin rechnet die Autobahn GmbH schon mit Ausgaben bis 700 Millionen Euro. Für 3,2 km Straße. Ausschließlich für Autos. Deswegen nochmal: Wem gehört die Straße?




Kommentare

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jomei 04.05.2021, 14:00:07

Ein ehemaliger Kollege sagte mir in meiner beruflich aktiven Zeit: "Och, das müsstest du doch inzwischen gelernt haben: Was du sagst, ist völlig unwichtig. Wichtig in diesen heiligen Hallen ist einzig und allein, wer was sagt, und wenn es der größte Bullshit ist." Meine Erfahrung trefflichst auf den Punkt gebracht. Ich habe schon manchmal Vorschläge zur Erleichterung und Vereinfachung von Arbeitsvorgängen an meinem Dienstort gemacht, und bekam Abfuhren wie z.B.: Machen wir nicht, da hält sich eh' keiner dran. Machen wir nicht, denn mich stört das nicht. Machen wir nicht, denn wenn wir was ändern, kostet uns das unnötig Zeit (die mein Vorschlag doch gerade sparen helfen sollte) usw. usf. In einer Beamtenhierarchie geht es eben nicht um das sachlich Sinnvolle und Hilfreiche, sondern um das Recht- und Machthaben als Selbstzweck, besonders, wenn die Besetzung von Entscheiderposten nicht ohne Vitamin B (z.B. Parteibuch) mitentschieden wird. Und als Tuttischwein wird einem die Innovationsfähigkeit ausgetrieben, die meisten von ihnen fügen und identifizieren sich lieber mit dem Unsinn, flankiert mit der Killerphrase: Ja aber du änderst doch nichts.

So kommt in letzter Konsequenz heraus, was Hannah Arendt einmal die Tyrannei der Niemande genannt hatte.


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