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Nachgefragt
21. April 2022

„Möglichkeiten des Verteilnetzes besser nutzen“

Ausbau und Digitalisierung der Stromnetze sind eine Mega-Aufgabe bei der Energiewende. In einer Roadmap hat die Branche ihre Aktionsschwerpunkte skizziert. Bis 2030 soll das Stromnetz in Deutschland fit sein für den Systemwechsel. Frank Borchardt erläutert den Weg dorthin.

Frank Borchardt ist Senior-Projektmanager Metering und Digitalisierung beim VDE FNN

Frank Borchardt ist Senior-Projektmanager Metering und Digitalisierung beim VDE FNN
Foto: VDE FNN

Herr Borchardt, das Forum Netztechnik/Netzbetreib (FNN) ist ein wichtiges Gremium, wenn es um die Regeln beim Netzbetrieb geht. Wer darf da mitreden?

Im Forum arbeiten alle betroffenen Fachkreise eng zusammen: Netz- und Messstellenbetreiber, Gerätehersteller und Behörden in Abstimmung mit dem Bundeswirtschaftsministerium, dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), der Bundesnetzagentur (BNetzA) und der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB). Wir definieren Regeln für den Netzbetrieb und den Netzausbau.

Die Zielmarke heißt „Klimaneutralitätsnetz 2030“. Konkret soll die Sektorenkopplung, der diskriminierungsfreie Zugang zu elektrischer Energie und die Steuerung des Verbrauchs ermöglicht werden. Was genau steht für die Branche an?

Wir haben in Deutschland ein sehr zu zuverlässiges Stromsystem. Die Infrastruktur mit mehr als 100.000 Kilometern Übertragungsnetz und 1,7 Millionen Kilometern Verteilnetz versorgt 45 Millionen Kunden. Der Systemwechsel hin zur Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien hat viele Facetten. Eine der ausschlaggebenden ist die Elektrifizierung vieler Verbräuche, die heute noch mit Gas oder Öl betrieben werden. Eine andere wichtige Facette sind die vielen Erzeugungsanlagen und deren nur bedingt steuerbare Stromproduktion. Das Netz der Zukunft muss trotz dieser geänderten Bedingungen zuverlässig und stabil funktionieren – was definitiv möglich ist, aber eben auch einen großen Umbau bedeutet.

Lassen Sie uns kurz die verschiedenen Aufgaben für Übertragungs- und Verteilnetz beschreiben…

Im Übertragungsnetz wird die großtechnisch erzeugte erneuerbare Energie von den Windparks im Norden und von den großen Freiflächensolarparks im Osten und Nordosten der Republik an die Verbrauchszentren im Westen und Süden Deutschland geleitet. Darüber hinaus ist das Übertragungsnetz das Bindeglied zu den anderen europäischen Ländern. Der Netzausbauplan für das Übertragungsnetz ist viel zu lange im Planungsstatus steckengeblieben. Hier muss es jetzt endlich vorangehen. Wenn die Übertragungsnetze – die Stromautobahnen – tatsächlich nutzbar sind, ist das gut für die Verteilnetze. Löst sich der Stau im Ausbau der Übertragungsnetze nicht, wird die Aufgabe in den Verteilnetzen umso größer.

Was genau bedeutet der Ausbau der Verteilnetze?

Hoffentlich später als früher wird es auch im Verteilnetze notwendig sein, zusätzliche Leitungen zu verlegen. Irgendwann ist das Kabel vor der Haustür einfach zu dünn und muss gegen ein dickeres ausgetauscht werden. Das ist mit aufgerissenen Bürgersteigen und Gräben verbunden und kostet viel Geld. Das soll nur dort geschehen, wo absolut notwendig. Hier kommt die zweite Komponente des Ausbaus ins Spiel – die digitale Infrastruktur. Es geht darum, die Möglichkeiten und Grenzen des Verteilnetzes besser zu nutzen bzw. zu schützen. Es geht ums Messen und Steuern. Mit der durch Digitalisierung gewonnenen Flexibilität können wir den Kupferleitungsbau in großen Teilen auf später verschieben oder idealerweise ganz überflüssig zu machen.

Wo muss diese Digitalisierung beginnen?

Die Netzbetreiber haben jahrzehntelange Erfahrungen mit Spitzenlastzeiten. Jeder wusste, wie sein Netz funktioniert, ohne allzu viel überwachen zu müssen. Diese Erfahrungen sind wenig wert, wenn ganz viele neue Spieler im Netz mitmischen in Form von Wallboxen und Wärmepumpen, einer Vielzahl von Photovoltaikanlagen oder Schnellladestationen. Hier wird neue Intelligenz gebraucht in Form von intelligenten Messsystemen – im Netz selbst an bestimmten neuralgischen Punkten aber auch und gerade bei Verbrauchern und Erzeugern. Der Rollout dieser Messsysteme ist enorm wichtig für die Verteilnetze. Das ist eine logistische Herausforderung – die Installation von rund 1,5 Millionen Systemen pro Jahr bis 2030. Gleichzeitig fehlen auch noch Regeln, was genau wie gesteuert werden darf. Hier ist der Gesetzgeber gefordert.

Das Stromsystem der neuen Energiewelt muss sehr flexibel sein. Es besteht Konsens, dass dafür in bestimmten Situationen auch der Verbrauch zeitlich verschoben wird. Welcher Ball liegt da beim FNN?

Wir arbeiten mit dem Wirtschaftsministerium und dem BSI zusammen daran, dass vernünftige Regeln entstehen. Wenn diese Regeln gefunden worden sind, ist es unsere Aufgabe, diese in einheitliche Anwendungsregeln, Lastenhefte und sonstige technischen Vorgaben für Netzbetreiber und Gerätehersteller zu gießen. Der Eingriff ins Verbrauchsverhalten muss am Ende einheitlich und für alle Akteure – Verbraucher, Netzbetreiber, Hersteller von Smart Gateways – durchgängig funktionieren. Der Gesetzgeber muss den Rahmen vorgeben, wir machen daraus technische Regeln, das Angebot eines Tarifs, der Flexibilität belohnt, ist dann Sache des Marktes. In Bezug auf die Steuerbarkeit von Verbrauchern besteht leider bis heute eine Regelungslücke, die es schnell zu schließen gilt.

Wo gibt es Interessenkonflikte zwischen den Netzbetreibern und den anderen Marktakteuren – Stromanbietern oder Stromverbrauchern?

Der Netzbetreiber hat die Aufgabe, das Stromnetz funktional und betriebssicher bereitzustellen. Erzeuger und Verbraucher haben andere Interessen, viel oder wenig Strom zu verkaufen, zu speichern oder zu bestimmten Zeiten zu nutzen. Hier muss austariert werden und meiner Meinung nach auch dem Netzbetreiber das Recht eingeräumt werden, proaktiv auf das Netz einwirken zu können. Damit meine ich nicht den Not-Ausschalter, den es zu vermeiden gilt, sondern Eingriffe, die genau das – ein Not-Aus – verhindern helfen. Die Bereitschaft bei den Kunden, dass da jemand herumregelt, kann nur über Gegenwerte erreicht werden, beispielsweise mit einem Rabatt auf das Netzentgelt.

Das gemeinsame Erzeugen und Teilen von Strom in der Nachbarschaft gilt als Lösung und ist Teil der europäischen Richtlinien. Weshalb ist das so eine harte Nuss?

Diese Transaktionen haben mehrere Aspekte. Zum einen ist es derzeit so, dass der Netzbetreiber gar nicht weiß, dass an einer Stelle x mehr Strom erzeugt wird und in unmittelbarer Nähe, zwei Häuser weiter, gerade jemand sein Auto laden will, also ein zusätzlicher Verbrauch entsteht. Aber auch die Marktregeln sind noch gar nicht darauf ausgelegt, dass Strom peer-to-peer in der Nachbarschaft ausgetauscht werden kann. Der Netzbetreiber steht vor der Situation, dass er zum einen an bestimmten Stellen Strom geliefert bekommt, den er kaum annehmen und weiterleiten kann, an anderer Stelle aber zu viel Nachfrage hat. Wenn alle voneinander wüssten – und hier sind wir bei der Digitalisierung – dann wäre der erste Schritt für gute Lösungen getan.

Es geht auch um etwas grundsätzlich Neues – den Abschied vom Stromnetz, das jederzeit in beliebiger Menge Strom liefert.

Ja, das ist ein grundlegender Bestandteil unserer Agenda. Netze waren in Deutschland bisher so ausgelegt, dass jederzeit beliebig viel Strom verfügbar war. Die Verbraucher sind daran gewöhnt – doch hier steht ein grundlegender Wandel an. Denn die umfassende Elektrifizierung von Heizung und Verkehr würde einen enormen Netzausbau benötigen, wenn wir weiterhin an diesem Modell festhalten. Das wäre eine immense volkswirtschaftliche Verschwendung. Zudem war ein durchschnittlicher Haushalt mit im Durchschnitt vier Kilowatt Leistungsentnahme zufrieden. Die Ladeinfrastruktur bringt nicht nur mengenmäßig viele neue Verbrauchspunkte, sondern auch in der Leistung – hier sprechen wir von 11 oder 22 Kilowatt Leistung. Es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen die Leistungsentnahme intelligent steuern – das heißt zeitlich versetzen oder auch die Entnahme leicht drosseln. Ein Elektroauto kann in der Nacht auch etwas länger geladen werden, es muss nicht um Mitternacht schon wieder vollgeladen sein, wenn es erst am nächsten Morgen gebraucht wird.

Gibt es dafür auf europäischer Ebene Vorgaben oder nachahmenswerte Modelle?

Vorgaben gibt es nicht, die Infrastruktur – Verteilnetze, intelligente Messsysteme, Steuerungstechnik –  ist Sache jedes Mitgliedslandes. Wir gehen in Deutschland einen Sonderweg. In keinem Land wird so intensiv das Thema Messen und Steuern im Verteilnetz miteinander verknüpft. Das ist ein komplexer technischer Ansatz. Wir verbauen intelligente Messsysteme, die eine gemeinsame Infrastruktur haben und Steuerung flächendeckend ermöglichen. Mitunter hört man, dass in anderen europäischen Ländern alles viel einfacher sei. Da fehlt aber etwas in der Rechnung. Es stimmt, teilweise wird in anderen Ländern schon die zweite Generation Smart Meter verbaut. In Schweden, Finnland und Italien sind die Verbraucher zu 100 Prozent mit Smart Metern ausgestattet. Aber das sind intelligente Zähler, die die Möglichkeit zur Fernauslesung bieten, jedoch nicht zur Steuerung von außen. Wir müssen das Ziel im Auge behalten – den Systemwechsel hin zu Erneuerbaren Energien. Dieses Ziel hat kein anderes Land so konkret formuliert wie Deutschland und deshalb ist auch die Umsetzung woanders eher noch vage.

Es geht also um eine Ausbalancierung der Verbraucherinteressen mit den Kapazitäten des Netzes?

Wenn Sie es so formulieren wollen. Die Verbraucher erhalten über den Markt Anreize. Beispielsweise könnte ein Akteur der Automobilbranche für seine Kunden einen bestimmten Tarif zum Laden bundesweit anbieten. Das lokale Netz kann aber diese Nachfrage nicht zwingend anbieten, denn Netzengpässe sind denkbar. Dafür brauchen die Netzbetreiber klare Regeln, um dann konform handeln zu können.

Wenn wir von Regeln und Akteuren sprechen – ganz konkret, woran arbeiten Sie da?

Wir beschäftigen uns mit Rollen und deren Rechten. Der Verbraucher ist ein wichtiger Player, ob es dann eine Wärmepumpe oder eine Wallbox ist, spielt keine Rolle. Es gibt die Erzeuger, Energieversorger, die Netzbetreiber. Für alle soll es auf einer Metaebene festgelegte Handlungsspielräume geben in diesem neuen Marktsystem. Bei diesem Prozess sind wir schon ziemlich weit fortgeschritten. Wir diskutieren noch über die Rolle der sogenannten Koordinierungsfunktion, die letztlich den Interessenausgleich zwischen allen Energiemarktteilnehmern herstellen muss, um den Gesetzen der Physik zu genügen. In dieser Rolle sehen wir die örtlichen Netzbetreiber, die sowieso schon per Gesetz zu diskriminierungsfreier Arbeit verpflichtet sind. Wir sollten diese Arbeit bis Ende des Jahres schaffen, um dann den Rollout der Steuerboxen in den Smart Metern zu starten.

Welche Wünsche haben Sie an die Politik?

Zuerst die klare Ansage, wie es mit dem eben erwähnten Rollout der Steuerung von Verbrauchern weitergehen soll. Vor allem, wie mit welchen Anreizen, die Verbraucher zu netzdienlichem Verhalten motiviert werden. Was können wir dem Endkunden anbieten, wenn er bereit ist, dass wir bei ihm in bestimmten Fällen etwas regeln. Denn nur so können wir den volkswirtschaftlichen Effekt der Flexibilität heben. Da gibt es grundsätzliche zwei Wege, den Bonus bei den Netzentgelten – oder über die Preise der Energielieferanten. Da haben beide Seiten Bauchschmerzen mit den jeweiligen Ideen der anderen Seite. Hier muss die Politik vermitteln. Weiter wünschen wir uns bessere Information für Verbraucher. Es sind viel Halbwissen und Ängste in der Diskussion, die wir überwinden müssen. Wir schaffen die Energiewende nur, wenn wir wissen, warum wir diese Anstrengung unternehmen. Und die hier beschriebenen Dinge sind ein Teil davon.

Geht es nicht auch um einen Bewusstseinswandel bei den Verbrauchern?

Da bin ganz bei Ihnen. Das ist ein großer Teil der Arbeit. Das aktuelle Mindset passt nicht für das Energiesystem der Zukunft. Natürlich sollen alle Verbraucher gleiche Rechte haben und nicht diskriminiert werden. Aber wenn doch aus physikalischen Gründen eine Einschränkung notwendig wird, muss eine Gegenleistung akzeptiert werden und nicht auf das alte Recht auf ständige Versorgung in beliebiger Menge gepocht werden.

Sind die Netzbetreiber gut vorbereitet auf die Aufgaben, die jetzt anstehen?

Von der Technik her sind wir vorbereitet, um alles, was Teil der Energiewende und der Digitalisierung ist, schnell zum Leben zu erwecken. Uns fehlt der Startschuss aus der Politik – und die definierte Laufstrecke. Das neue Marktdesign ist ein dickes Brett, aber es muss jetzt gebohrt werden. Denn die Umsetzung dauert Jahre, schließlich geht es um Millionen Verbrauchspunkte – und 2030 soll die neue Netzstruktur in großen Teilen realisiert sein.

Das Gespräch führte Petra Franke.


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