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Neue EnergieweltDigitalisierung für die Energiewende – mit Augenmaß

Grafik Stadtansicht mit Linien, die Vernetzung symbolisieren
Grafik: energiezukunft

Die Energiewende braucht die Digitalisierung. Immer komplexer wird die aus Millionen Einheiten bestehende Energiewelt. Dabei gibt es Chancen und Risiken, aber kaum eine Verschnaufpause.

09.11.2021 – Im Energiesektor werden bereits heute massenhaft Daten erfasst und automatisiert verarbeitet. Tempo und Umfang dieser Entwicklung werden mit der Energiewende noch einmal schneller und komplexer. Die Digitalisierung der Energiewende ist kein am Hafen vertäutes Schiff, das wir besteigen können oder nicht. Wir sind bereits an Bord, die Leinen sind eingeholt, wir verlassen das ruhige Fahrwasser und erreichen gerade die hohe See.

Immer mehr Energieerzeuger – Windkraft- und Solaranlagen – mischen im System mit, die Zahl der großen Kraftwerke in Gigawattgröße nimmt ab. Zugleich kommen immer mehr elektrische Verbraucher neu hinzu; Fahrzeuge, Speicher und Gebäudetechnik werden miteinander vernetzt. Die Steuerung und Bereithaltung der nur scheinbar unbegrenzten und stabilen Ressource Netz wird damit komplexer. Dass der Strom aus Sonnenkraft und Windenergie nicht gleichmäßig erzeugt wird, erschwert die Aufgabe – aber macht sie nicht unmöglich.

Netzstabilität wird mehr und mehr eine Aufgabe aller im System verbundenen Akteure – und das bereits auf kleinster Ebene in der Nachbarschaft, dem Quartier, dem Dorf, der Stadt. Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge sprechen miteinander und sind mit Energieversorgern und Netzbetreibern verbunden. Ein solches Zusammenspiel der vielfältigsten Akteure ist heute noch Zukunftsmusik, unter anderem weil die Geräte unterschiedliche Kommunikationsstandards nutzen, die Interoperabilität der Daten ist nicht gegeben. Doch es gibt auch andere Beispiele.

Weit vorangeschritten ist bereits die Energiemeteorologie: Wetterprognosen werden auf konkrete Erzeugungsanlagen und Regionen heruntergebrochen und so für den jeweiligen Verteilnetzbetreiber oder Direktvermarkter eine sehr genaue Vorhersage der Energieerzeugung möglich. Engpässe und Überschüsse können damit vorausschauend gemanagt werden. Es gilt, Erzeugung und Verbrauch möglichst punktgenau miteinander in Einklang zu bringen – auch indem große Verbraucher ihre Stromnachfrage flexibel gestalten, überschüssiger Strom zwischengespeichert oder die verschiedenen Wetterlagen der Regionen klug ausgenutzt werden.

Bereits erprobt: Virtuelle Kraftwerke

Darüber hinaus nehmen schon heute virtuelle Kraftwerke am Markt teil, die dezentrale Einheiten zusammenschließen und koordinieren. Die Einheiten können volatile Erzeugungsanlagen wie Windkraft- oder Photovoltaikanlagen sein, die idealerweise durch Biogas und Wasserkraftwerke ergänzt werden, aber auch Stromspeicher oder flexible Stromverbraucher. Virtuelle Kraftwerke vermarkten den erzeugten Strom und die aus dem Kraftwerkschwarm entstehende Flexibilität. Ihre Rolle im Energiemarkt gleicht denen großer Kraftwerke. Ein leistungsfähiges, hochverfügbares Leitsystem mit Echtzeitinfrastruktur ist Voraussetzung.

Untiefen gibt es auf dieser Route mehr als genug: Der Smart-Meter-Rollout beispielsweise hatte einen Fehlstart. Mit der flächendeckenden Einführung von Smart Metern – elektronischen Zählern in Kombination mit einer Kommunikationsschnittstelle – sollte die Grundlage für die Flexibilisierung der Stromnachfrage geschaffen werden. Denn perspektivisch werden Energielieferanten auch flexible Stromtarife anbieten müssen, um mit diesem Instrument die Nachfrage systemdienlich zu beeinflussen. Die Geräte sollten höchsten Sicherheitsanforderungen genügen und Produkte verschiedener Hersteller zertifiziert sein, bevor die Messstellenbetreiber mit dem Einbau beginnen durften. Dieser Prozess dauerte viel länger als geplant. Die gesetzliche Grundlage wurde 2016 geschaffen, der sogenannte Rollout startete 2020 – zuerst bei großen Verbrauchern und Erneuerbaren-Energien-Anlagen ab einer bestimmten Größe. Inzwischen ist er ins Stocken gekommen, weil Zweifel an den technischen Normen bestehen.

Ein nächstes, ebenso herausforderndes Vorhaben beginnt im Herbst 2021: unter dem Begriff Redispatch 2.0 sollen fortan Verteilnetzbetreiber kurzfristige Erzeugungsprognosen für Anlagen in ihrem Netzgebiet ermitteln und digital übermitteln – auch dieser Prozess wird voraussichtlich etwas holpern.

Digitalisierung ist kein Selbstzweck

Doch trotz aller Herausforderungen ist die Energie-, Verkehrs- und Wärmewende ohne digitale Technologien undenkbar. Nicht nur die Integration von fluktuierenden Erneuerbaren Energien in den Strommarkt steht auf der Agenda. Es warten auch Millionen Gelegenheiten, bei denen Effizienzpotenziale mit intelligenten Mess-, Regelungs- und Steuerungstools gehoben werden können.

Auf der Nachfrageseite gilt es Flexibilitäten aufzuspüren und nutzbar zu machen. Der Energiehunger der Industrie wurde bisher jederzeit bedarfsgerecht gestillt. Aber die gezielte Anpassung und Steuerung der Nachfrage – mithilfe digitaler Technologien – bietet enorme Potenziale. Beispielsweise könnte der Chemiesektor einen nennenswerten Flexibilitätsbeitrag leisten, wie Forscher in einer Studie für die Kreditanstalt für Wiederaufbau berichten. In der Chemieindustrie wird viel Prozesswärme benötigt. Sie könnte aus Strom oder Gas (grünem Wasserstoff) erzeugt werden, je nach Verfügbarkeit. Grundsätzlich finden sich in allen Sektoren Potenziale zur Flexibilisierung der Stromnachfrage. Die wirtschaftlichen Anreize zum Lastmanagement in der Industrie sind bislang jedoch zu gering.

Im Verkehr könnten mit intelligenter Verkehrssteuerung und digital optimierten Frachtrouten Treibhausgasemissionen eingespart werden. Die genannten Beispiele beschreiben digitale Anwendungen mit positiver Klimawirkung – die Digitalisierung verhilft zu Effizienzgewinnen.

Licht und Schatten

Aus Klimagesichtspunkten hat die Digitalisierung aber auch eine Schattenseite. Mit ihr geht ein steigender Strombedarf einher. Erhöhte Rechen- und Speicherkapazitäten sowie die Vernetzung von Messgeräten, Sensoren, Maschinen, Fahrzeugen, Elektrogeräten und Gebäudetechnik brauchen Strom. Bereits heute entfallen acht bis neun Prozent des gesamten Stromverbrauchs in Deutschland auf die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien, wie die Autoren der KfW-Studie berichten.

Wir dürfen uns also nicht ohne jedes Wenn und Aber in die

Digitalisierung stürzen, sondern müssen ganz genau hinschauen, wie der Energiebedarf der Endgeräte und Rechenzentren aussieht. Die Geräte sollten länger nutzbar bleiben, die Kreislaufwirtschaft muss auch in diesem Sektor Einzug halten. Nicht zuletzt sollte die digitale Infrastruktur konsequent mit Erneuerbaren Energien betrieben werden. Bisher ist auch an dieser Flanke einiges schief gelaufen. So wollte die bisherige Bundesregierung mit einem Register für Rechenzentren den Energieverbrauch besser kontrollieren und reduzieren. Passiert ist bisher wenig.

Selbst über die Ökobilanz der eigenen Rechenzentren konnte die Regierung nur spärlich Auskunft geben, als ihr von der Fraktion der Linken ein umfangreicher Fragenkatalog vorgelegt wurde. Vorgaben und Grenzwerte sucht man vergeblich. Landauf landab werden beispielsweise in Rechenzentren riesige Räume gekühlt – obwohl doch nur bestimmte Komponenten gekühlt werden müssten. Von der Nutzung der Abwärme ganz zu schweigen.

Ein weiterer Diskussionsraum eröffnet sich, wenn Datenhoheit und Datenhandel zur Sprache kommen. Strommarktakteure sind von Hause aus nicht unbedingt im Datenhandel beheimatet, wie die großen meist amerikanischen Internetkonzerne. Doch am Beispiel virtueller Kraftwerke tun sich erste Geschäftsmodelle auf, wie kluge Aggregation von Daten in bare Münze umgewandelt werden kann.

Wer darf mit welchen Daten zukünftig agieren oder gar handeln? Welche Prozesse dürfen automatisch gesteuert werden und wer bestimmt die Details? Werden effiziente alltagstaugliche In-House-Technologien Vorrang haben vor der Fernsteuerung per künstlicher Intelligenz? Droht gar eine Rezentralisierung durch die digitale Hintertür? Hier stellen sich Fragen, deren Antworten noch gefunden werden müssen.

Wenn Digitalisierung nicht Selbstzweck ist, sondern Effizienzgewinne und Systemstabilität zum Ziel hat, wird es nicht ohne Aggregatoren gehen – Dienstleistungsanbieter, die im übertragenen Sinne aus den vielen Einzelinformationen ein Bild entstehen lassen, auf dessen Grundlage sinnvolle Entscheidungen getroffen werden. Diese Prozesse brauchen gesellschaftlich akzeptierte Regeln. Denn Konzerne, die mit ihrer schieren Menge an Daten und daraus entwickelten Angeboten die Spielregeln eines Marktes bestimmen, unterliegen keiner demokratischen Kontrolle. Was aber noch fataler ist: mit ihrem Beharrungsvermögen können sie notwendige gesellschaftliche Veränderungen ausbremsen oder ganz verhindern. Das wäre nicht nur ärgerlich, sondern könnte in Zukunft sogar zu einer Überlebensfrage werden.

Ein fortwährender und mühsamer Aushandlungsprozess ähnlich wie beim Datenschutz wird die Digitalisierung begleiten. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um dafür Leitplanken zu bestimmen: möglichst universelle Regeln, die auf Fairness und Angemessenheit zielen. Mit Gaia-X ist in Europa eine IT-Plattform am Entstehen, die diesen Grundsätzen folgen soll. In einem offenen und transparenten digitalen Ökosystem sollen Daten und Dienste verfügbar gemacht, zusammengeführt, vertrauensvoll geteilt und genutzt werden können. Noch steckt das Projekt in den Kinderschuhen, eine Erfolgsgarantie gibt es nicht.

Klar ist heute nur eines: Ein klimaneutrales Energiesystem in einem Industrieland wie Deutschland braucht eine umfassende funktionierende digitale Infrastruktur, die Akteure vernetzt und deren Regeln gemeinschaftlich austariert werden. Petra Franke

Redispatch 2.0: Neue Pflichten für Verteilnetzbetreiber

Seit Oktober 2021 gelten neue Regeln beim Netzmanagment. Mussten bisher nur große konventionelle Kraftwerke am Redispatch teilnehmen, werden ab Oktober auch Ökostrom- und KWK-Anlagen ab 100 Kilowatt installierter Leistung in den Redispatch einbezogen. Sie unterstützen damit künftig die effiziente Netzführung. Die Einbeziehung von Tausenden Erneuerbare-Energien-Anlagen in den Redispatch ist ohne Digitalisierung nicht vorstellbar. Anlagenbetreiber müssen Stammdaten, Stammdatenänderungen und Nichtverfügbarkeiten zum Beispiel wegen Wartungsarbeiten an den Netzbetreiber melden. Der Netzbetreiber muss diese Daten
aggregieren, Einspeiseprognosen erstellen, die netztechnische Wirksamkeit sicherstellen und Flexibilitätsbeschränkungen an Knotenpunkten berechnen. Mit Hilfe dieser Daten kann im Falle einer drohenden Überlastung die optimale Abschaltreihenfolge der betroffenen Anlagen festgelegt werden. Das übergeordnete Ziel ist die Erhaltung der Netz- und Systemstabilität sowie die Vermeidung von Netzunterbrechungen. Die Regelungen zum Einspeisemanagement von Erneuerbare-Energien-Anlagen werden mit dem Redispatch 2.0 aufgehoben.


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