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Nachgefragt
23. November 2023

„Scheinheiliges Verhalten der EU“

Die Gespräche zu einem Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten in Südamerika sind in einer heißen Phase. Insbesondere für Frauen drohen durch das Abkommen prekäre Verhältnisse, sagt Bettina Müller von der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation Power Shift, die der EU zudem scheinheilige Verhandlungen unterstellt.

Bettina Müller, Expertin für Handels- & Investitionspolitik bei Power Shift

Bettina Müller, Expertin für Handels- & Investitionspolitik bei Power Shift
Eine Frau mit rot-blonden Locken und in einem bunten Kleid
Bild: Power Shift

Frau Müller, wie ist der aktuelle Stand der Verhandlungen beim Handelsabkommen zwischen der EU und den Mercosur Staaten, Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay?

Theoretisch ist das Abkommen so gut wie ausverhandelt. Zwar gab es 2019 schon eine grundsätzliche politische Einigung, aber damals war noch Jair Bolsonaro Präsident von Brasilien und da hieß es von einigen EU-Staaten, dass sie angesichts der radikalen Abholzung des Amazonas-Regenwaldes das Abkommen so nicht unterschreiben können. Die EU-Kommission schlug daraufhin eine Zusatzerklärung zum Wald- und Klimaschutz vor. Die wurde den Mercosur-Staaten aber erst im März 2023 vorgelegt, nach der Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva zum neuen Präsidenten Brasiliens. Doch die Mercosur-Staaten haben im September in einem Standpunkt deutlich gemacht, dass sie gegen Sanktionen jeglicher Art sind, die ihnen bei Verfehlungen zum Wald- und Klimaschutz auferlegt würden.  Sie wollen vielmehr ein wirtschaftlich nachhaltiges Abkommen.

Wald- und Klimaschutz sowie wirtschaftliche Nachhaltigkeit– Argumente beider Seiten, die verständlich sind.

In den Mercosur-Staaten aber droht mit dem Wegfall von Zöllen im Zuge des Handelsabkommens ein massiver Verlust von Arbeitsplätzen in Bereichen, in denen die Staaten in Südamerika nicht wettbewerbsfähig im Vergleich zu europäischen Firmen sind. Die Textilindustrie etwa würde massiv ins Hintertreffen geraten, weil sie gegen billigere Ware aus Europa nicht ankommt. Dasselbe droht auch bei Kosmetik und pharmazeutischen Produkten, für die es bereits gute regionale Wirtschaftskreisläufe gibt. Auf der anderen Seite würden die Mercosur-Staaten im landwirtschaftlichen Sektor massiv profitieren. Das Abkommen sieht höhere Quoten und Zollfreiheiten für gewaltige Mengen an Sojaöl, Bioethanol aus Zuckerrohr und Rindfleisch in die EU vor. Das macht das Verhalten der EU ziemlich scheinheilig.

Warum?

Profitieren von dem Abkommen würden vor allem die großen Agrarunternehmen – das Agrobusiness mit seiner monokulturellen Landwirtschaft. Und gerade die ist es, die für die Abholzung großer Waldflächen und Methanaustoß riesiger Viehbestände verantwortlich ist. Wenn die EU auf der einen Seite Wald- und Klimaschutz explizit fordert und auf der anderen Seite die Zerstörung von Wald und Befeuern der Klimakrise mit zollfreien Produkten fördert, passt das nicht zusammen. Eigentlich müsste das gesamte Abkommen neu verhandelt und entsprechende Produkte, die die Klimakrise verschärfen, rausgenommen werden. Die Förderung des Agrobusiness hätte zudem weitere massiv negative Auswirkungen für viele Menschen vor Ort.

Sie waren zuletzt in Argentinien auf einer Konferenz, wo es um diese negativen Auswirkungen, speziell für Frauen ging. Was wurde Ihnen berichtet?

Bereits jetzt werden dort große Mengen Pestizide eingesetzt, die aus der Luft über die Felder gesprüht werden, was in der EU im Übrigen zurecht verboten ist. Denn diese Pestizide können abdriften und die Gesundheit der Menschen in den umliegenden Dörfern stark in Mitleidenschaft ziehen. Wir reden dort von viel höheren Quoten an Krebs, Leukämie, Hautkrankheiten, Lungenkrankheiten, Atemwegserkrankungen, spontane Schwangerschaftsabbrüche und Kindern, die mit Fehlbildung geboren werden. Zudem wurde mir insbesondere von Kleinbäuerinnen berichtet, wie dramatisch die Situation in vielen Gebieten aufgrund des fortschreitenden Klimawandels schon jetzt ist.

Im Amazonas Gebiet herrscht eine beispiellose Dürre.

Die Frauen dort sind verzweifelt. Ausgetrocknete Flüsse und Felder, keine Fische und landwirtschaftliche Erzeugnisse. Deren gesamte Lebensgrundlage wird gerade zerstört und sie wissen nicht, wovon ihre Familien leben sollen. Angesichts des drohenden Handelsabkommens sind die Befürchtungen groß, dass mit weiterer Landnahme des Agrobusiness und Befeuerung der Klimakrise solche Dürreperioden zunehmen und die Kleinbäuerinnen weiter von ihrem Land vertrieben werden. Familien müssten in die Städte ziehen und würden ohne vernünftige Arbeitsplätze zu den Ärmsten der Armen gehören. Sie könnten dann für sich und die Menschen in ihrer Umgebung keine gesunden Lebensmittel mehr anbauen. Das gefährdet die Ernährungssouveränität vieler.

Der Vergleich einer Satellitenaufnahme von Oktober 2022 (Bild oben) und Oktober diesen Jahres (Bild unten) zeigt das Ausmaß der Dürre im Amazonas Gebiet. Weite Teile des Amazonas Flusses – am unteren Bildrand – sowie des Rio Negro und ihrer Nebenarme sind ohne Wasser. (Bilder: NASA Earth Observatory images by Wanmei Liang, using Landsat data from the U.S. Geological Survey. Story by Adam Voiland.)

Was droht Frauen außerhalb des landwirtschaftlichen Sektors im Zuge des Handelsabkommens?

Die bereits erwähnte fehlende Wettbewerbsfähigkeit, etwa in der Textilbranche, könnte neben Arbeitsplatzverlusten zu einer sogenannten Prekarisierung der Arbeit, insbesondere für Frauen führen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, würden viele Firmen wohl Gehaltskürzungen vornehmen und längere Arbeitszeiten durchsetzen. Die Arbeitsbedingungen würden insgesamt nach unten korrigiert werden.

Aber im Abkommen gibt es eine Klausel zur Umsetzung internationaler Arbeitsstandards.

Das ist, ebenso wie die anderen Bestimmungen im Nachhaltigkeitskapitel,, nicht umsetzbar und sogenanntes soft law. Es ist zwar möglich, Beschwerden einzureichen, aber daraufhin kann ein Expert:innengremium nur Empfehlungen aussprechen. Effektive Handhabungen, die eine Durchsetzbarkeit der Empfehlungen ermöglichen würden, wie Sanktionen, sind ausgeschlossen.  

Könnte es überhaupt ein Abkommen geben, das Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitsrechte und wirtschaftliche Prosperität beider Seiten fördert?

Die Verhandlungen zu dem Abkommen laufen seit dem letzten Jahrtausend. Dessen Inhalt wird den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht. Im Prinzip müsste man das gesamte Abkommen neu aufrollen. Für Umwelt- und Klimaschutz aber gibt es viele andere Möglichkeiten der Kooperation zwischen der EU und den Mercosur- Staaten. Es gibt etwa schon einen Amazonas-Fonds und Brasilien und Argentinien haben bereits gute Waldschutzgesetze auf denen bei Kooperationen aufgebaut werden könnte.

Sie hoffen, dass das Handelsabkommen scheitert?

Dafür setzen wir uns ein. Aktuell wird jedoch so gut wie jeden Tag verhandelt. Es gibt sehr viele wirtschaftliche und geopolitische Interessen, weshalb versucht wird, dieses Abkommen so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen. Aber zugleich lehnen einige das Abkommen ab, wie etwa Österreich auf Seiten der EU-Staaten. Zudem ist es fraglich, ob sich die beiden Verhandlungspartner tatsächlich so bald einigen können. Der Präsident Paraguays, Santiago Peña, der im Dezember den Vorsitz der Mercosur-Staaten übernimmt, hatbereits erklärt, die Verhandlungen nicht fortführen zu wollen. Er will sich lieber Handelsabkommen mit asiatischen Ländern, wie Südkorea und China zuwenden. Dabei drohen jedoch Umwelt, Klima und Menschenrechte ebenso ins Hintertreffen zu geraten. Das gilt übrigens auch für neuere Handelsabkommen der EU mit Mexiko, Chile und Neuseeland, die die EU noch vor den Wahlen zum EU-Parlament im Juni 2024 unterzeichnen will. Die haben zum Teil einen grüneren Anstrich, die grundlegenden Probleme einer ungezügelten Wirtschaftsweise aber bleiben.

Welche Auswirkungen könnte die Wahl von Javier Milei zum neuen Präsidenten Argentiniens auf die Verhandlungen zum Handelsabkommen haben?

Die Wahl des ultrarechten Anarchokapitalisten Javier Milei zum neuen Präsidenten Argentiniens dürfte es schwer machen, das Abkommen bald abzuschließen. Dieser würde zwar jegliche „Frei“Handelsabkommen unterzeichnen, allerdings möchte er gerne den Mercosur als wirtschaftlichen Block zerstören, womit ein Handelsabkommen unter dessen Dach unmöglich wäre. Die größte Gefahr ist kurzfristig jedoch, dass die scheidende argentinische Regierung weitere Konzessionen macht, um alle noch offenen Verhandlungen abzuschließen, und Milei dann nur noch unterschreiben muss. Mit einer Regierung Milei in Zukunft zu verhandeln, dürfte für die EU schwer zu rechtfertigen sein. Während der Präsidentschaft Bolsonaros wurden die Verhandlungen auch ausgesetzt und Milei ist mindestens so fatal für Argentinien, dessen Urwälder, Indigene und Menschenrechte, wie es Bolsonaro für Brasilien war. Andererseits hat der derzeitige Vize-EU-Kommissionspräsident Josep Borell bereits verlauten lassen, dass die EU die Partnerschaft mit Argentinien und der neuen argentinischen Regierung stärken will, u.a. durch die Unterzeichnung des EU-Mercosur-Abkommens.

Das Interview führte Manuel Grisard


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