Kommentar: Die Energiewende von unten denken
Um Strom, Wärme und Mobilität zu dekarbonisieren, müssen wir stärker als bislang an der Basis ansetzen: bei Wohnhäusern, Quartieren, Gewerbekomplexen. Dafür braucht es neue Freiheiten für die Akteure vor Ort – und einen Abschied von alten energiewirtschaftlichen Denkmustern.
18.11.2021 – Dass der Klimawandel nicht auf uns wartet, dringt langsam auch in die letzten Erkenntnisritzen von Politik, Unternehmen und Gesellschaft. Selbst für das immer noch unzureichende Ziel eines klimaneutralen Deutschlands bis 2045 bleiben uns nur 24 Jahre. Gerade in unseren Gebäuden muss die Transformation angesichts des schleppenden Wandels und des großen Einflusses auf unser CO2-Budget immens beschleunigt werden. Dafür müssen wir erneuerbaren Strom auch in die Wärme und Mobilität bringen.
Die Kardinalfrage der Energiewende ist also: Wie bekommen wir zehntausende Geschosswohnbauten und Gewerbebauten und den Energieverbrauch ihrer Nutzer klimaneutral? Wie setzen wir eine dezentrale Sektorenkopplung um, also die Kopplung und Optimierung von Strom, Wärme und Mobilität unmittelbar vor Ort?
An der Technologie liegt es nicht: Bereits heute können wir größere Gebäude über Wärmepumpen mit Umweltwärme versorgen. Der dafür notwendige Strom kommt anteilig aus Photovoltaik vor Ort. Die Stromerzeugung wird mit der Ladeinfrastruktur für Elektroautos verknüpft und auch das Wärmesystem kann mit seinen thermischen Massen und Pufferspeichern als Flexibilität für die Strombereitstellung dienen.
Überholte Regulierungslogik
Dass wir gerade hier in der dezentralen Energiewende seit Jahren mehr oder weniger auf der Stelle treten, liegt insbesondere am undurchdringlichen Dschungel aus Gesetzen und Verordnungen – sowohl aus dem Gebäudesektor als auch aus der Energiewirtschaft. Der ist, fast wie ein echter Urwald, in vielen Jahrzehnten ungehindert gewachsen und erschwert Projektentwicklern, Planern und Energieunternehmen das Fortkommen.
Egal ob Blockheizkraftwerk, Wärmepumpe, Speicher, Photovoltaikanlage oder was auch immer: Für jede einzelne Technologie ist en detail geregelt, wie sie eingesetzt werden soll, welchen Wert die jeweils produzierte Kilowattstunde hat und wie sie zu messen und abzurechnen ist. Im Grunde versucht die Regulierung bis heute, von oben herab das „WIE“ lokaler Energiesysteme vorzugeben.
Zugleich widersprechen sich die unzähligen Einzelanreize und Regelungen oft oder reißen erhebliche Interpretationsspielräume und damit rechtliche Risiken auf. Hingegen wird das eigentliche Ziel aber, eine Vor-Ort-Versorgung als Ganzes möglichst kostengünstig und klimaneutral zu sichern, nirgendwo formuliert und reguliert.
Dieses Ziel ist auf die hergebrachte Denkweise – gleichermaßen zentral wie kleinteilig – auch gar nicht erreichbar. Jedes Gebäude und jeder Kunde haben spezifische Anforderungen. Diese Vielfalt ist in der bisherigen Regulierungslogik nicht beherrschbar.
Akteure vor Ort brauchen Beinfreiheit
Hinzu kommt eine strukturelle Diskrepanz zwischen den gesetzlichen Regeln im Gebäude- und Wärmebereich auf der einen sowie dem Strombereich und der Energiedatenerfassung auf der anderen Seite. In der Wärme ist es eine Selbstverständlichkeit, mehrere Gebäude und verschiedene Technologien als System zu betrachten und sogar zu Nahwärmenetzen zusammenzuschließen. Vorgaben beispielsweise zum Klimaschutz werden auf einer Systemebene gemacht, hauptsächlich über den Primärenergiefaktor.
Im Strom sind solche Bündelungen und systemischen Ansätze nur in wenigen Sonderfällen wie dem solaren Mieterstrom und nur unter kostspieligen Auflagen zulässig und bleiben daher Nischenlösungen.
Der öffentliche Hausflur
Das Kernproblem ist: Das öffentliche Stromnetz reicht regulatorisch bis zum Stromzähler jeder einzelnen Partei eines Mehrfamilienhauses oder Gewerbegebäudes. In diesem Sinne ist selbst der Hausflur noch öffentlicher Raum. Eine gedankliche oder gar gesetzliche Zwischenebene wie ein Gebäude oder ein Quartier gibt es nicht.
Dahinter steckt der Anspruch der althergebrachten Energiewirtschaft an ein beliebig stark ausgebautes Stromnetz, das dem Handel mit Strom in ganz Deutschland keinerlei Beschränkung auferlegt. Und das somit auch keinerlei Anreiz bietet, Strombedarf und Stromverbrauch zuerst weitmöglichst lokal zu optimieren.
In einer Energiewelt, in der Ökostrom, Wärme und Mobilität gekoppelt sind, macht der Fokus auf derart hochgerüstete Stromnetze jedoch keinen Sinn mehr: Der Netzbetreiber als bisher zentraler Steuerungsakteur kennt weder Größe noch Temperaturschichtung lokaler Pufferspeicher im Wärmesystem noch weiß er, wie flexibel Einsatzzeiten von Wärmepumpen oder das Laden von E-Autos verschoben werden können.
Diese Informationen liegen lokal vor, bei den Nutzern und Betreibern konkreter Gebäude und Energiesysteme. Die Akteure vor Ort könnten entlang realer Anforderungen und Möglichkeiten entscheiden und handeln – und damit viel besser und effizienter agieren als ein zentraler „Mastermind“. Das gilt von der Planung der Gebäude und der mit ihnen verschmolzenen Energiesysteme über deren Errichtung bis hin zum langjährigen Betrieb.
Die Dynamik vor Ort entfesseln
Was wir also brauchen ist die Möglichkeit, Gebäude, Gewerbeeinheiten und andere räumlich klar umrissene Teile unseres Energiesystems als in sich geschlossen und systemisch gedachte „Vor-Ort-Systeme“ zu betreiben.
Was besser vor Ort entschieden und optimiert werden kann, wird vor Ort entschieden und optimiert. Was besser in einer höheren Systemebene, zum Beispiel in den Netzen entschieden und optimiert werden kann, wird dort administriert.
An den Schnittstellen muss es dafür klare und auch harte Spielregeln geben, was die Rechte und Pflichten der Vor-Ort-Systeme angeht. Dazu gehören Vorgaben für Systemstabilität und zur Prognose der eigenen Erzeugung und des Verbrauchs, eine kluge Struktur für Netzentgelte und -erlöse, Regeln für den Handel mit anderen Marktteilnehmern und anderes mehr.
In diesem klaren Rahmen wird dann nur noch das „WAS“ eines Gesamtgebäudes und -systems vor Ort angereizt und reguliert. Das heißt, es gibt Vorgaben beispielsweise zu den maximal erlaubten CO2-Emissionen in einem Quartier sowie Standards für eine transparente und verbraucherfreundliche Messung und Abrechnung von Energiemengen.
Das „WIE“, also über welche technischen Systeme und Betriebsweisen des Vor-Ort Systems die Energie optimal bereitgestellt werden kann, wird den Akteuren vor Ort überlassen. Für das Innere des Vor-Ort-Systems gibt es nur noch Minimalstandards, so für Energieeffizienz – und die klare Vorgabe niedrig gesetzter Emissionsobergrenzen drängt dann auch unzeitgemäße Technologien wie Ölheizungen schnell aus dem System.
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel!
Diese Vor-Ort-Welt bedeutet einen Paradigmenwechsel für unser Energiesystem und die Energiewirtschaft. Sie ist subsidiär gedacht, da bei ihrer Ausgestaltung und der Zuschreibung von Verantwortungen das Prinzip „von unten nach oben“ gilt.
Eine so vom Kopf auf die Füße gestellte Regulierung für Energiesysteme vor Ort ist in der Lage, den Markt von der heutigen Verstrickung im Regelungsdschungel zu befreien und neue unternehmerische Dynamik und Innovation zu entfachen. Markt und Wettbewerb würden sich weniger daran orientieren, hoch komplexe und oft widersprüchliche Regulierungsvorgaben zu erfüllen, sondern könnten Spielräume vor Ort nutzen, um neue Technologien und Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Fördermilliarden, die heute ausgelobt werden müssen, um trotz der regulatorischen Bremsklötze die Wärmewende zu beschleunigen, können eingespart und sinnvoller eingesetzt werden – beispielsweise in die Ausbildung und Umschulung tausender neuer Planer und Fachkräfte, die die Energiewende tatsächlich vor Ort umsetzen.
Menschen und Unternehmen könnten sich endlich wieder stärker in ihren eigenen Lebensräumen in die Energiewende einbringen, sich direkt mit ihr identifizieren und von ihr profitieren. Dieses Mehr an Teilhabe ist auch entscheidend dafür, die Akzeptanz für die Energiewende als denkbar größte Infrastrukturmodernisierung aufrecht zu erhalten.
Klar ist aber auch: Vor-Ort-Systeme als Teil des gesamten Energiesystems werden auch Pflichten haben. Vor-Ort-Versorgung meint eben nicht nur eine erneuerbare und sektorengekoppelte, sondern auch eine systemverantwortliche Energieversorgung. Jedes Gebäude, jede Gewerbeliegenschaft und jedes Quartier muss Teil eines stabilen, sicheren und kostengünstigen Gesamtsystems sein. Damit das gelingt, müssen die lokalen Teilsysteme mehr Verantwortung für das Gesamtsystem übernehmen.
Schrittweise und gezielt zum neuen System
Eine so grundlegende Änderung energiewirtschaftlicher Regulierung wird nicht über Nacht gelingen. Kern und notwendiger Startpunkt der Entwicklung ist die lange aufgeschobene große Netzentgeltreform. Die muss nun endlich kommen, kann aber auch nur ein Anfang sein.
Eine interessante Möglichkeit eines schrittweisen Übergangs zum neuen Energiesystem kann darin bestehen, für ausgewählte Anwendungsfälle wie Quartiere Optionsrechte zu schaffen, also eine Wahlmöglichkeit, ob das Projekt in bestehender oder einer neuen Regulierungslogik umgesetzt werden soll.
Aus einer Vielzahl solcher „Mini-Reallabore“ könnten Unternehmen, Rechtsexperten und die Politik lernen und Geschäftsmodelle wie Regulierung nachfeilen. Erst nach einer solchen Lernphase von einigen Jahren würde dann ein neues Regulierungsdesign für alle verpflichtend gelten.
Diese Zeit kann und muss auch von Herstellern genutzt werden, um Planung, Installation und Betrieb technisch komplexer Systeme zu vereinfachen. Mit den in Deutschland vorhandenen Kapazitäten wird die erforderliche Modernisierung unserer Infrastruktur kaum zu bewältigen sein. Komponenten und Systeme müssen einfacher und die Anforderungen an das Personal für Einbau und Inbetriebnahme deutlich gesenkt werden. Mit moderner Software und Hilfsmitteln wie Augmented Reality sollte das möglich sein.
Allein dieser Ausblick zeigt: Vor Ort, in unseren Gebäuden und Heizungskellern, wird die Energiewelt bereits in wenigen Jahren deutlich anders aussehen.
Tim Meyer ist Geschäftsbereichsleiter Dezentrale Energieversorgung im NATURSTROM-Vorstand.
Kommentare
Heinz Klotz am 20.11.2021
Energiewende von unten denken, bedeutet für mich vom Kunden/Abnehmer her denken. Energie muss bezahlbar bleiben und zählt für mich zur Grundversorgung einer jeden Kommune oder jedem Landkreis. Diese Papier entspricht genau meinen Vorstellungen. Leider kommt dies bei vielen Entscheidern auf kommunaler aber auch überregionaler Ebene noch nicht an!
Derzeit gibt es eine Überregulierung und auch ein festhalten an liebgewordenen Subventionen - auch bei den bestehenden Erzeugern/Genossenschaften. Für mich bedeutet dies, eine Abschaffung der EEG Umlage bzw. Überführung in den CO² Preis. Versteckte Subventionen, bei den fossilen Energieträgern, müssen sich in den Tarifen wiederfinden. Das macht erneuerbare attraktiver und überzeugender.
Wir müssen auch in bestehenden Netzgebieten/Energiewaben denken. Sie müssen untereinander/miteinander "kommunizieren" können. Jeder Zubau von Leitungen verteuert den Tarif. Regional - dezentral - unter Einbeziehung der Bürger, muss oberstes Gebot sein. Bei den Tarifen muss es Staffelungen geben, Investoren (Bürger) müssen einen Mehrwert erkennen, der sich nicht unbedingt in Höhe der Dividende widerspiegelt, sondern im Stromtarif selbst. Somit bekommen wir mehr Akteure aus der Mitte der Gesellschaft.