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Nachgefragt
23. August 2022

Neun-Euro Ticket-Nachfolge: „Ticket bereits ausfinanziert“

Eine attraktive regionale und bundesweite Nachfolgeregelung für das 9-Euro Ticket lässt sich finanzieren – und gleichzeitig das Angebot verbessern. Eine wichtige Stellschraube ist eine effizientere Organisation des ÖPNV.

Daniel Herfurth ist Nahverkehrsexperte an der Universität Konstanz.

Daniel Herfurth ist Nahverkehrsexperte an der Universität Konstanz.
Daniel Herfurth ist Nahverkehrsexperte an der Universität Konstanz.
Foto: Privat

Herr Herfurth, was nach dem 9-Euro-Ticket kommt, wird derzeit noch kontrovers diskutiert. Was wäre Ihrer Meinung nach sinnvoller – ein bundesweites oder ein regionales Folgeangebot zu schaffen?

Es sollte beides geben. Der Erfolg des Neun-Euro Tickets ruht meines Erachtens auf zwei Säulen: der deutschlandweiten Gültigkeit und dem unfassbar günstigen Preis. Die Kombination aus beidem wird man nicht fortführen können, da das zu massiven Haushaltsbelastungen führen würde. Die beiden Punkte sollten jedoch voneinander getrennt und dann weiterentwickelt werden: Es sollte ein regionales Monatsticket für 29 Euro geben, sowie ein bundesweites Ticket für 99 Euro. Stammkunden, die in den letzten drei Jahren durchgängig ein Abo eines beliebigen Verbundes hatten, sollten das deutschlandweite Ticket zum Spezialpreis von 65 Euro erhalten. Das wäre ein faires Dankeschön an all diejenigen, die dem ÖPNV auch in schwierigen Zeiten die Treue gehalten haben. Das gilt sowohl für die Corona-Zeit, als auch für die Neun-Euro-Ticket-Zeit, die ja nicht für alle Stammkunden immer nur gute Seiten hatte.

Sollte es für das regionale Ticket wieder Tarifzonen geben?

Die Wiedereinführung von Tarifzonen ist für manche ein Schreckgespenst, bedeutet es doch auf den ersten Blick die Rückkehr zu komplizierten Tarifen, die das sprichwörtliche „Tarifabitur“ nötig machen, um das richtige Ticket zu lösen. Das darf es nicht mehr geben. Andererseits ist aber anzuerkennen, dass wir nach dem Neun-Euro-Ticket auch weiterhin niedrige Ticketpreise für eine echte Entlastung von Pendlern brauchen. Das ist ein Spagat, der nur mit Tarifzonen gelingen wird. Vermeintlich fortschrittliche Lösungen, wie zum Beispiel virtuelle Zonen rund um den eigenen Wohn- und Arbeitsort sind leider keine Alternative, denn sie verursachen massive Kosten in der IT-seitigen Entwicklung und Abrechnung. Sie sind in Zeiten knapper Budgets kein zielführender Weg.

Sollten sich die regionalen Zonen an den bestehenden Verkehrsverbünden orientieren? Wie müssten sie gestaltet sein?

Im Grundsatz ja, allerdings sollte es nur noch 20 Zonen für ganz Deutschland geben. Das ist dann immer noch eine massive Vereinfachung gegenüber den rund 100 Tarifverbünden und anderen Konstrukten mit gut und gerne über 1.000 Tarifzonen, die heute existieren. Der Leitgedanke dieser 20 Zonen ist daher auch, dass es immer nur einfacher, aber in keinem Fall komplizierter werden darf als früher: So wurden für die Bildung dieser Zonen in einem iterativen Prozess Verbünde zusammengelegt und verbundfreie Gebiete integriert, aber niemals bestehende Verbünde auseinandergerissen. Es gibt weniger Tarifgrenzen, nicht mehr.

Welche Rolle spielen hierbei die Ballungsräume?

Kluge Verkehrsverbünde haben auch schon in der Vergangenheit Ballungsräume über Landesgrenzen hinweg in einem einzigen Verbund zusammengeführt. Die neuen 20 Zonen greifen diesen Gedanken durch das weitere Zusammenlegen von Verbünden auf. Allerdings kommt trotzdem irgendwann eine Zonengrenze, deren Effekte durch Überlappungsgebiete abgemildert werden. Überlappungsgebiete sind stets Bestandteil aller angrenzenden Zonen, sodass für Fahrten in ein Überlappungsgebiet in keinem Fall mehrere Zonen oder das deutschlandweite Ticket gekauft werden muss.

Wie hoch veranschlagen Sie den Finanzierungsbedarf?

Das Kriterium für die Höhe der zu erzielenden Einnahmen aus dem oben vorgeschlagenen Tarifmodell sollten die bisherigen Einnahmen aus Fahrkartenverkäufen im ÖPNV sein. Nimmt man die Vor-Corona-Jahre 2018 und 2019 als Basis, so lagen die Ticketerlöse eines Jahres damals zwischen 12 und 20 Mrd. €. Die Bandbreite ergibt sich daraus, dass die verfügbaren Quellen mit unterschiedlichen Datengrundlagen arbeiten. Die VDV-Statistik schaut auf VDV-Mitglieder, der 8. Kostendeckungsbericht der Bundesregierung und das statistische Bundesamt schauen im Prinzip auf alle ÖPNV-Unternehmen, legen aber im Detail ebenfalls verschiedene Maßstäbe an. Ich habe Grund zur Annahme, dass 16,5 Mrd. Euro dem wahren Wert recht nahe kommen. Heißt also: bringt das neue Modell Fahrkarteneinnahmen in dieser Größenordnung, ist es ohne neuen Zuschuss auskömmlich. Ich komme zu dem Schluss, dass das neue Modell etwa 15,5 Mrd. Euro jährlich einbringen wird.

Wie hoch muss die Nachfrage sein, wie viele Leute müssen das Ticket kaufen, damit die Kalkulation ganz aufgeht? Gehen Sie von einer weiteren Nachfragesteigerung aus, trotz der höheren Preise im Vergleich zum 9-Euro-Ticket oder von einem gewissen Nachfrageeinbruch?

Auf die 15,5 Mrd. Euro komme ich bei 23 Mio. Nutzern (Abo und Einzelkauf zusammen). Ich gehe insofern zunächst von einem starken Einbruch der Nachfrage um rund 25 Prozent aus. 29 Euro (für eine Zone) und 65 bzw. 99 Euro (für ganz Deutschland) sind ein sehr guter Preis, aber psychologisch doch erst einmal viel, wenn man vom Neun-Euro-Ticket kommt. Das wird an der Nachfrage nicht spurlos vorübergehen. Der „Neuigkeitseffekt“ des Neun-Euro-Tickets vom Juni wird auch nicht mehr da sein.

Es bleibt also zunächst eine Finanzierungslücke von 1 Mrd. Euro jährlich. Schafft man es aber, noch zwei Millionen Menschen mehr für den ÖPNV zu gewinnen, so wäre das Ticket bereits ausfinanziert. Alternativ könnte man auch den Preis für das deutschlandweite Ticket von 99 Euro auf 129 Euro erhöhen und den Stammkunden-Spezialtarif von 65 Euro nach und nach an den Regeltarif angleichen. Unter der Voraussetzung, dass das immer noch so attraktiv ist, dass deshalb kaum jemand zusätzlich abspringt, wäre das Ticket auch so ausfinanziert.

Wie sieht es dann mit dem sozialen Aspekt aus, wenn die Tarife auch in Ihrem Modell steigen?

Ich würde auf absehbare Zeit nicht am Ticketpreis für eine einzelne Zone drehen, also den 29 Euro. Das ist die Basismobilität, die wir in wirtschaftlich schwierigen Zeiten sehr sozialverträglich anbieten sollten. Der soziale Aspekt ist im Übrigen auch der Grund, warum mein „Einstiegspreis“ mit 29 Euro deutlich niedriger liegt als die Vorschläge von VCD und VDV.

Gibt es auch Einsparpotentiale, um den zusätzlichen Finanzierungsbedarf zu senken?

Ja, die gibt es, und zwar an ganz vielen Stellen! Seit Bahnreform und Regionalisierung hat sich ein gewaltiger Verwaltungsapparat zur Bespielung des ÖPNV in regulativer und gestaltender Hinsicht gebildet. Da müssen wir ran, um die Effizienz staatlichen Handelns wieder zu erhöhen. Ganz viele teure Prozessschritte im ÖPNV bekommt der Fahrgast gar nicht mit: Etwa die Kosten des Vertriebs, die Einnahmeaufteilungsverfahren zwischen Unternehmen, Verbünden und Aufgabenträgern oder die massiven Kosten, die im Rahmen eines Ausschreibungsverfahrens anfallen. Die meisten dieser Kosten sind Blindleistung, die den ÖPNV weder besser, noch umfangreicher, noch günstiger machen. Ein Langfristziel könnte sein, dass es nur noch eine deutschlandweite Vertriebsarchitektur im ÖPNV gibt, dass Verbund- und Aufgabenträgerangelegenheiten künftig eins werden und dass eine dieser neuen ÖPNV-Steuerungseinheiten je Bundesland völlig ausreichend ist. Zum Vergleich: Im Moment sind wir bei rund 100 Verbünden, 28 Aufgabenträgern für den SPNV und – je nach Zählung – rund 300 Aufgabenträgern für den ÖPNV.

Das Interview führte Hans-Christoph Neidlein.


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