Strommarkt: Ein Marktdesign für die volatile und dezentrale Energiewende
Erneuerbare und dezentrale Energieprojekte sind für Energieeffizienz, Energieunabhängigkeit und Klimaschutz ein Riesengewinn. Doch für solch zukunftsfähige Projekte braucht es ein neues Energiemarktdesign.
14.11.2022 – Im aktuellen Strommarktdesign sind es bekanntlich oftmals Gas-Kraftwerke, die den Preis für alle Technologien zur Stromproduktion setzen. Denn Spitzenlasten werden im bestehenden Strommarkt oft durch die immer zur Verfügung stehenden und schnell in Betrieb genommen Gasmeiler gedeckt. In einer dekarbonisierten Welt könnten diese Spitzenlasten auch mit grünem Wasserstoff gedeckt werden. Doch Wasserstoff werde eine knappe Ressource sein, wie Marie Wettingfeld vom Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft letzte Woche auf einer Online-Veranstaltung der Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) anmerkte.
Daher gelte es weitere Ansätze zu finden. Wettingfeld verwies dabei auf einen von ihr und Kolleginnen erarbeiteten Vorschlag. Demnach müsse ein neues Energiemarktdesign die variierende Wertigkeit von Strom anerkennen, anstatt wie aktuell pauschal zu vergüten. Vor allem die Erneuerbaren Energien Wind- und Solarstrom sind volatil, dass heißt zu bestimmten Zeiten stärker verfügbar als zu anderen Zeiten. Dies sollte in einem neuen Strommarkt besser abgebildet werden, etwa mit regional unterschiedlichen Preisen zu verschiedenen Uhrzeiten. Wenn also die Sonne über einem bestimmten Gebiet scheint und damit viel (Erneuerbarer) Strom verfügbar ist, sollten die Preise vor Ort niedrig sein und damit die Konsument:innen dazu zu animieren, energieintensive Prozesse, wie Waschmaschine und E-Auto aufladen, zu diesen Zeiten zu nutzen.
Aktuell bestehe zudem das Problem des sogenannten Redispatch. Es wird eine Reduktion der Produktion „vor“ dem Engpass und eine Erhöhung der Produktion „hinter“ dem Engpass angeordnet. Dies ist oftmals eine Folge von Transportengpässen. Der Ausbau, insbesondere von Windstrom fand zuletzt eher im Norden statt. Somit stieg der Stromtransportbedarf von Nord nach Süd. „In der Folge wird derzeit tendenziell (Wind-)Strom aus dem Norden abgeregelt und mit fossilem Strom im Süden ausgeglichen“, wie Wettingfeld und Kolleginnen in der Analyse schreiben. Mit einem Ausbau Erneuerbarer Energien im Süden und stärkeren Fokus auf dezentrale Konzepte, könnte dem Problem entgegengewirkt werden.
Für dezentrale Konzepte brauche es zudem einen stärkeren Rückgriff auf Speicher, wie Wettingfeld betont. Heimspeicher und E-Autos könnten etwa – im Sinne der Sektorenkopplung – für die Netzentlastung genutzt werden. Bei E-Autos steht die Technologie des bidirektionalen Ladens in ihren Startlöchern. Angeschlossen an die Strombuchse, können E-Autos nicht nur laden, sondern auch Strom ins System abgeben. Im aktuellen Marktdesign ist ein solches Vorgehen aber noch nicht gewinnbringend für die Autobesitzer:innen abgebildet.
Subsidiarität als Lösung
Sven Kirrmann, Referent für politische Kommunikation bei dem Ökoenergieversorger naturstrom verwies auf der Online Veranstaltung der AEE auf die vor-Ort-Potenziale der Energiewende und eines dezentralen Energiesystems. Eine bessere Sektorenkopplung vor Ort könne entscheidend zu Energieeffizienz, Energieunabhängigkeit und Dekarbonisierung beitragen. Das aktuelle Strompreissystem betrachte jedoch Strom und Wärme getrennt, was zu einer Überkomplexität und Überfrachtung führe. Vielmehr müsse ein Subsidiaritätsprinzip eingeführt werden, dass den Lösungen vor Ort eine übergeordnete Rolle gegenüber dem zentralen Netz einräumt. Denn in kleinteiligen Räumen, etwa einem Mieterstromprojekt könne viel besser über Energieverbrauch entschieden und optimiert werden.
Beispielhaft verwiesen Kirrmann und sein Kollege Tim Loppe, Leiter Medien und Politik bei naturstrom, auf das Bauprojekt Kokoni One im Berliner Norden. In einem von naturstrom erarbeiteten Konzept werden 84 Doppel- und Reihenhäuser im Viertel Französisch Buchholz in Pankow ab 2023 gemeinschaftlich mit brennstoff- und emissionsfreier Energie versorgt. Das Energiekonzept besteht aus einem gedämmten, 1,2 Kilometer langen Niedertemperatur-Nahwärmenetz mit 68 Wärmesonden, zwei zentralen Wärmepumpen und dachintegrierter Photovoltaik.
Die Wärmesonden entziehen der Erde konstant Energie mit einer Temperatur von ca. 10°C und die Pumpen erwärmen diese auf 40°C. So können die Gebäude im Winter geheizt werden – und im Sommer gekühlt. Denn in den warmen Monaten kann der Vorgang umgekehrt werden. Dann wird den Gebäuden Wärme entzogen und ins Erdreich eingeleitet. Die Photovoltaik-Anlagen ersetzen die Dachdeckung der Häuser und sind in einem gemeinsamen Netz verbunden, das günstigen Mieterstrom für die Bewohner ermöglicht. Auch die hygienische Wasserbereitung und Stellplätze mit Ladepunkten werden von den eigenen Dächern versorgt. Über ein separates Netz werden die einzelnen Anlagen zu einer großen Gesamtanlage verbunden und haben einen zentralen Zähler.
Solch innovative Konzepte sind indes nicht überall umsetzbar, erst recht nicht im Bestand. Dementsprechend braucht es weiterhin übergeordnete Stromsysteme, für die es, laut Wettingfeld, mittelfristig noch Gas-Kraftwerke brauche. Verschiedene Studien gingen von 30 bis 60 Gigawatt in 2035 aus. Deren Bedarf als Back-Up-Lösung müsse jedoch durch die vorgeschlagenen Anpassungen im Marktdesign deutlich reduziert werden. Zudem brauch es klare Vorgaben zur Umstellungsfähigkeit auf grünes Gas, so Wettingfeld, etwa durch CO2-Budgets und Emissionsgrenzwerte. mg