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EnergiekriseWege zur resilienten und klimaneutralen Industrie

Industriemaschine, die Glasflaschen formt, das Glas ist flüssig orange
In der Industrie ist der Gasverbrauch hoch – aber auch der Wille zu Veränderungen – hin zu klimaneutralen Produktionsverfahren. (Foto: Verallia auf Wikipedia / CC BY-SA 4.0)

Die technischen Lösungen für die Industrie stehen parat, Prozesse und Verfahren können klimaneutral stattfinden. Allerdings werden erneuerbarer Strom und Wasserstoff in großen Mengen gebraucht. Industrievertreter fordern, die Energiewende zu beschleunigen und neu zu justieren. Ein Gastbeitrag

28.06.2022 – Die Verwundbarkeit und Abhängigkeit von russischem Gas spürt dieser Tage vor allem die deutsche Industrie. Sie verbraucht ein Drittel des gesamten Erdgases. Und ihr könnte im Falle von Notfallplänen der Gashahn zugedreht werden. Ein Szenario, das nach der Ausrufung der Alarmstufe durch Bundesminister Habeck konkret und greifbar wird.  

Dies hätte Auswirkungen auf ganze Lieferketten. Beispielsweise sind bei der Herstellung von Glas konstante Temperaturen von 1600°C notwendig – werden diese nicht eingehalten, kommt es zu Beschädigungen des Schmelzofens. Auch die so wichtige Produktion von Ammoniak, der als Dünger für die Landwirtschaft wichtig ist, würde unter einem Gasmangel leiden, da kein aus Erdgas gewonnener Wasserstoff mehr zur Herstellung von Ammoniak zur Verfügung stünde. Dies hätte negative Auswirkungen auf die Lebensmittelproduktion.

Langsamkeit der Vergangenheit wird zum Verhängnis

Der Druck, sich nach Alternativen umzusehen, ist daher immens. Und das nicht nur wegen der akuten Energiekrise, sondern insbesondere auch aufgrund der Klimakatastrophe. Die Industrie ist für ein Viertel der gesamtdeutschen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die technisch hochanspruchsvolle Transformation der Industrie muss bis 2045, also in gut 20 Jahren, abgeschlossen sein.

Zeit zu handeln. BDI-Präsident Siegfried Russwurm brachte das Problem beim Tag der Industrie jüngst auf den Punkt: „Die Langsamkeit der Vergangenheit trifft uns jetzt doppelt: beim Klimaschutz und bei der Entkopplung von Energieträgern aus Russland.“ Er folgerte aus Sicht der Industrie: „Die Energiewende muss deshalb beschleunigt und neu justiert werden.“

Abhängigkeit vom Erdgas – Industrielle Produktion in Gefahr

Aber was sind die Möglichkeiten? Ein Großteil des in der Industrie eingesetzten Erdgases wird zur Erzeugung von Prozesswärme genutzt mit Temperaturen weit über 1000 °C. Zudem ist Erdgas einer der Ausgangsstoffe für eine Reihe chemischer Zwischenprodukte wie Wasserstoff und Methanol. Fossiles Gas findet Anwendung in der Stahl-, Chemie-, Glas- und Papierindustrie sowie beim Maschinenbau und der Lebensmittelproduktion. Im Jahr 2018 wurden allein 250 TWh an Erdgas für die gesamte Industrie benötigt: davon jeweils etwa 50 TWh für die Produktion von Stahl und den Grundchemikalien Methanol, Ammoniak und Ethylen. Das entspricht nahezu dem Gesamtenergiebedarf der Schweiz.

Regionale Industriestandorte – Herausforderungen und Chancen

Zudem darf nicht vergessen werden: Die Transformation der Industrie beinhaltet neben der techno-ökonomischen auch eine gesellschaftliche Dimension. Beispielsweise sind in der Chemieregion in Mitteldeutschland allein am Standort Leuna, im Süden von Sachsen-Anhalt, über 10.000 Arbeitskräfte beschäftigt. Auch die erdölverarbeitende Industrie, die am Standort Leuna stark vertreten ist, wird sich dem Wandel stellen müssen. Für diese Region als Ganzes wird es eine große Herausforderung werden, die Transformation dieser Industrien wirtschaftlich und gesellschaftlich aufzufangen.

Aber – und darum geht es hier – Herausforderungen bieten auch Chancen. Etwa durch die rechtzeitige Gestaltung dieses Standorts zu einem Zentrum für klimaneutrale Produktion von synthetischem Naphta sowie Benzin, Diesel und Kerosin. Die Forschung der nächsten Jahre muss diese Elemente der Transformation verstärkt berücksichtigen und vor allem nicht-fossile Alternativen in den Blick nehmen. 

Klimaneutrale Produktion - Das Rad muss nicht neu erfunden werden

Die gute Nachricht ist: viele der Technologien, die zur Transformation des Industriesektors notwendig sind, stehen bereits zur Verfügung. Die Elektrifizierung der Wärmeerzeugung nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein. Ein weiterer Weg ist die Nutzung erneuerbarer Brennstoffe aus Biomasse sowie der Wechsel zu alternativen Produktionsprozessen. So kann Stahl durch die Direktreduktion von Wasserstoff ebenso hergestellt werden, wie im herkömmlichen Hochofen, in dem mit fossilem Koks als Reduktionsmittel gearbeitet wird. Und das bei fast vollständiger Vermeidung von Emissionen.  Auch in anderen Industriesektoren stehen die Alternativen bereit.

Damit eine schnelle derartige Transformation gelingen kann, sind aber politische Steuermechanismen zwingend erforderlich. Denn trotz technischer Machbarkeit sind viele der neuen Produktionspfade heute noch insgesamt teurer als ihr fossiler Verwandter. Neben der Anhebung des CO2-Preises, braucht es auch die Förderung von Investitionen in neue Prozesse und Klimaschutzverträge zwischen klimaneutral produzierenden Unternehmen und dem Staat.

Ohne Wasserstoff, keine Industriewende

Grundlage für eine Energiewende in allen Sektoren ist ein klimaneutrales Stromsystem. Doch während sich große Teile des Wärme- und Transportsektors direkt elektrifizieren lassen, etwa mit Wärmepumpen und Elektroautos, wird in der Industrie die klimaneutrale Produktion, Distribution und Anwendung von Wasserstoff eine essentielle Rolle einnehmen müssen. Besonders in der Chemieindustrie wird Wasserstoff als Ausgangsstoff für eine Reihe von Zwischenprodukten, wie Ammoniak, Ethylen und Methanol angewendet, die wiederum die Basis für die Herstellung weiterer Chemikalien darstellen: Ethylen ist die wichtigste, organische Grundchemikalie, deren Hauptanwendungsgebiet mit ca. 75 Prozent die Kunststoffherstellung (Verpackungen, Folien, Isolationsmaterial).  Methanol ist Ausgangsstoff für Formaldehyd, das hauptsächlich zur Produktion von Werkstoffen (Harze, Lacke) für die Bau- und Automobilindustrie aber auch für die Herstellung von Möbeln und Alltagsgegenständen verwendet wird.

Aktuell wird der Wasserstoff vorwiegend durch Dampfreformierung von Erdgas hergestellt. In Zukunft wird die Wasserelektrolyse die wichtigste Produktionsmethode. Die Hochskalierung dieser Technologie wird ein zentraler Baustein sein, während bestimmte Rahmenbedingungen, wie die Schaffung eines Verteilnetzes für Wasserstoff innerhalb Deutschlands intensiv diskutiert werden. In den anderen Sektoren ist Wasserstoffnutzung eine von mehreren Möglichkeiten, für die Industrie hingegen eine Schlüsseltechnologie.

Dezentrale Wasserstoffproduktion – Importabhängigkeit nicht reproduzieren

Aber: Zur Herstellung von Wasserstoff für die industrielle Anwendung sind große Strommengen notwendig. Bei einem hohen Bedarf an Wasserstoff für industrielle Prozesse besteht die Gefahr, die aktuellen Abhängigkeiten von einer Ressource zur nächsten zu verschieben und somit Verwundbarkeit und Importabhängigkeit zu reproduzieren. Ein Industriekomplex, dessen Strombedarf aus umliegenden PV- und Windparks bereitgestellt wird, kann bei vorhandenen Kapazitäten einen signifikanten Anteil des benötigten Wasserstoffs selbst herstellen. Diese regionale, dezentrale Erzeugung beinhaltet den Vorteil der Unabhängigkeit von Drittstaaten und könnte vom Staat finanziell zusätzlich belohnt werden. Sollte sich der Import von Wasserstoff aus techno-ökonomischer Sicht als sinnvoll erweisen, ist von Beginn an auf eine Diversifizierung der Importe zu achten.

Optimistisch ins Erneuerbare Energiesystem

Keine Frage, die Herausforderung ist immens. Hinzu kommt, dass der Industrie sehr lange Investitionszyklen zugrunde liegen. Die entsprechenden Grundlagen für eine Transformation gilt es also sofort zu schaffen, sodass im nächsten Zyklus bereits die neuen Technologien etabliert werden können. Schwierige Zeiten. Das gibt auch Industrieverbandschef Siegfried Russwurm zu und appelliert dennoch für den Blick nach vorne: „Unternehmerinnen und Unternehmer schauen nach vorne: Wer nicht Optimist ist, ist in der Leitung eines Unternehmens fehl am Platz.“ In diesem Sinne braucht es jetzt einen Aufbruch in ein Erneuerbares Energiesystem, in dem die Industrie integriert sein wird und das langfristig zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: es ermöglicht eine klimaneutrale Produktion und ist nicht vom weltpolitischen Geschehen abhängig. Technische Wege zu Resilienz und Klimaneutralität sind zweifelsfrei machbar. Philipp Diesing

Der Autor Philipp Diesing forscht am EnergieSystemWende-Kolleg der Reiner Lemoine Stiftung an der Energie-Transformation der Industrie.  


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