Wärmewende: Das Null-Emissions-Haus
25 Prozent der Treibhausgasemissionen in Europa entstehen durch Gebäude. Eine schnellstmögliche Wärmewende ist wichtig aber nicht ausreichend, machen Forscher deutlich. Es gilt die gesamten Klimaauswirkungen von Gebäuden zu betrachten.
04.06.2021 – Der Bau energieeffizienter Häuser und die Renovierung von Bestandsgebäuden zu sogenannten (Fast)-Null-Energie-Häusern stehen bislang im Fokus für mehr Klimaschutz im Gebäudesektor. Ziel ist es, mit verschiedenen Maßnahmen, wie Dämmung und Beheizung der Gebäude mit Erneuerbaren Energien, einen möglichst geringen Energiebedarf der Häuser zu realisieren. Die regenerativen Energieanlagen sollen dabei möglichst vor Ort installiert und genutzt werden.
Doch der EASAC, der European Academies Science Advisory Council, hält diesen Fokus für überholt. Der EASAC ist ein wichtiger Zusammenschluss nationaler Wissenschaftsakademien in Europa. Aus Deutschland ist die Leopoldina, die nationale Akademie der Wissenschaften, Mitglied. Der EASAC rät, politische Maßnahmen für mehr Klimaschutz im Gebäudebereich ganzheitlicher zu betrachten.
Emissionen über den gesamten Lebenszyklus betrachten
„Als Indikator für die Bewertung der Klimaauswirkungen eines neuen Gebäudes oder einer Renovierung sollten jetzt die Treibhausgasemissionen über den gesamten Lebenszyklus betrachtet werden“, so formuliert es der EASAC in einer Pressemitteilung.
Bei den Berechnungen der Klimaauswirkungen von Gebäuden müssten die massiven Emissionen der Bauindustrie und der Lieferkette miteinbezogen werden, sagt William Gillett, Direktor des EASAC-Energieprogramms. „Ein Gebäude zu renovieren, um den Energieverbrauch zu senken, macht wenig Sinn, wenn es keine Regulierung des CO2-Gehalts der Baustoffe und Komponenten gibt, die für die Sanierung verwendet werden, und wenn diese über weite Strecken transportiert werden“, so Gilett weiter.
Die Forscher betonen, dass es weiterhin wichtig sei, die Energieversorgung für Wärme so schnell wie möglich vollständig auf Erneuerbare Energien umzustellen. Dabei geben sie das Jahr 2030 als Zielkorridor aus und mahnen, auf synthetische Brennstoffe wie künstliches Methan und Wasserstoff weitgehend zu verzichten. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin für Energie, Verkehr und Umwelt amDeutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), begrüßt diesen Vorstoß. „In der Tat sollten weder synthetische Brennstoffe oder Wasserstoff im Gebäudesektor zum Einsatz kommen, dies wäre ineffizient, teuer und wenig kompatibel mit der notwendigen Sektorenkopplung“, so Kemfert.
Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen, und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen, dagegen kritisiert: „Strom ist nicht das neue Öl – Wasserstoff ist genauso eine Option, sowohl im Gebäude als auch auf Quartiersebene. Alles andere verkennt die Zusammenhänge und die Herausforderungen. Wir brauchen mehr Technologieoffenheit und Innovationen innerhalb ökologischer Leitplanken, gerade für eine erfolgreiche Bauwende.“
Kreislaufwirtschaft erschaffen
Der EASAC fordert indes auch die Recycling-Quote bei Baustoffen deutlich zu erhöhen und die Treibhausgasemissionen bei der Produktion von neuen Baustoffen deutlich zu senken. Es gelte im Gebäudesektor eine Kreislaufwirtschaft zu erschaffen, sagt Brian Norton, Co-Vorsitzender der EASAC-Arbeitsgruppe, die den Bericht erstellt hat. "Viele Baumaterialien können wiederverwendet, recycelt und zurückgewonnen werden. Zunächst einmal sollten Gebäude und ihre Komponenten so konstruiert werden, dass sie am Ende ihrer Nutzung leicht demontiert werden können", fordert Norton.
Dies ist vor allem bei der Planung von Neubauten möglich, sollte aber auch bei Gebäudesanierungen stärker in den Blickpunkt rücken. Ohnehin fordert der EASAC die Gebäudesanierungsrate deutlich zu erhöhen. Derzeit werden jährlich zwischen 1 und 1,5 Prozent des europäischen Gebäudebestands saniert. "Um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen, sollte diese Rate zwei- oder sogar dreimal so hoch sein", sagt William Gillett.
Und Brian Norton ergänzt: "In einer Gebäudehülle steckt eine Menge CO2, vor allem in Beton und Stahl. Mit den heutigen Technologien und digitalisierten Prozessen ist das Renovieren viel einfacher und nachhaltiger geworden. Wir müssen die derzeitige Praxis stoppen, Strukturen abzureißen, um sie von Grund auf neu zu bauen."
In Zahlen bedeute dies in der EU 90.000 Häuser die Woche zu renovieren. Denn schätzungsweise 75 Prozent der Gebäude, in der die Europäer leben, hätten eine schlechte Energiebilanz. Um Klimaneutralität 2050 zu erreichen, seien 146 Millionen Renovierungen in 30 Jahren nötig.
Lebensqualität verbessern
Im Zuge von Neubau und Sanierungen solle auch die Lebensqualität der Menschen in den Häusern verbessert werden, fordert der EASAC. Die bessere Nutzung von Sonnenlicht und Lüftungssystemen könne dabei ganz nebenbei auch die Energieeffizienz der Gebäude verbessern. Für Martin Pehnt, Fachbereichsleiter Energie am Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu), reduziert die Modernisierung des Gebäudebestands nicht nur Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen, sondern verbessere auch Schallschutz, Luftqualität, Behaglichkeit und Barrierefreiheit.
Doch noch sehe die Praxis anders aus, so Pehnt. Bei Fassadenreparaturen werden bei Wohngebäuden in Deutschland nur in jedem dritten Gebäude Dämmmaßnahmen durchgeführt, bei Nicht-Wohngebäuden sogar nur in jedem fünften. Diese ‚Pinselsanierungen‘ sind verlorene Chancen, die wir uns angesichts der Dringlichkeit des Klimaschutzes nicht leisten können“, sagt Pehnt.
Claudia Kemfert erklärt angesichts des EASAC-Berichts: „Um die Wärmewende in Deutschland zu erreichen, sollte das Null-Emissions-Gebäude verpflichtend werden und die energetische Gebäudesanierung samt Solaranlagen für Dächer finanziell stark gefördert werden.“
Lamia Messari-Becker fordert beim Baurecht, der Förderpolitik und weiteren notwendigen Bereichen Reformen konkret anzupacken. Auch gelte es soziale Fragen und Quartiere stärker ins Blickfeld zu rücken. „Wir müssen den Blick auf Quartiere erweitern, als Bindeglied zwischen einerseits den Gebäuden und andererseits der Stadt. Hier lassen sich Maßnahmen in einem größeren Handlungsfeld und gemeinsame Projekte realisieren“, so Messari-Becker. mf