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Schleswig-HolsteinKlotzen statt kleckern bei der Wärmewende

Stall mit Solarmodulen und eine Biogasanlage mit Speicher
Energiewende auf allen Wegen, im schleswig-holsteinischen Gettorf (Bild: Jörg Böthling)

Das schleswig-holsteinische Gettorf denkt bei der Wärmewende in großen Dimensionen. Davon zeugen das „Tüttendorfer Ei“ und engagierte Menschen, die die Kleinstadt auf Klimaneutralität trimmen.

16.05.2023 – Ortsmitte in Gettorf. Die Eichstraße ist verkehrsberuhigt. Alles fühlt sich sehr beschaulich an, norddeutsche Kleinstadt eben. Nichts Besonderes, eher ganz gewöhnlich, ein Dönerladen, ein Friseur, ein Optiker, ein Geschenkeladen und eine Bäckerei. Und hinter der „Einkaufsmeile“, befindet sich das Gotteshaus St. Jürgen aus dem 13. Jahrhundert, dessen imposanter Turm über den Ort mit rund 8.000 Einwohnern hinausragt. Auch das Vertriebsbüro der Bioenergie Gettorf GmbH & Co. KG ist in der Eichstraße anzutreffen. Dort bringt Erk Friedrichs den Bürgern Gettorfs die lokale Wärmewende näher. An der „heimischen Wärmefront“ versucht er eloquent, die Gettörfer zu künftigen Abnehmern von erneuerbarer Wärme zu machen, die Luftlinie nur etwas mehr als einen Kilometer in Richtung Gemeinde Tüttendorf auf einer Biogasanlage erzeugt wird.

„Es herrscht große Nachfrage“, sagt Friedrichs strahlend im Büro, „als die Energiepreise und die Versorgungsangst im August letzten Jahres in die Höhe schnellten, haben wir allein in dem Monat 70 neue Aufträge für eine Wärmeversorgung abgeschlossen.“ Inzwischen ist der Ansturm etwas abgeebbt, doch nach wie ist das Interesse sehr hoch. So hat Betriebswirt Friedrichs mittlerweile über 260 Verträge in petto: alle wollen am kommenden Wärmenetz der Bioenergie Gettorf GmbH & Co. KG verbunden sein und beliefert werden.

Huckepack werden im öffentlichen Raum Stromleitungen gelegt, die es Kunden in spe - quasi vor der Haustür - ermöglicht, ihre E-Autos direkt mit Strom aus der Biogasanlage zu laden. „Vor allem die älteren Leute im Ort wollen jetzt handeln“, sagt Friedrichs, „die wollen endlich weg von der Ölheizung, sie wollen etwas fürs Klima und ihre Enkelkinder tun.“ Apropos Enkelkinder: Aufklärung beginnt bei den Kleinsten: Ein Heftchen mit dem Titel „Summi & Brummi haben einen Traum“ erzählt bunt und kurzweilig „eine Geschichte mit Zukunft“ bei der zwei Bienen in Zukunft richtig aufatmen können, weil in ihrem Heimatort grüne Energie einzieht.

Chancen erkannt

Wer mit den Passanten in der Gettorfer Eichstraße über die Biogas-Thematik spricht, der erfährt erstaunlich viel Akzeptanz, obgleich auch eine Bürgerinitiative im Ort existiert, die gegen den Bau eines weiteren BHKWs der Bioenergie Gettorf wetterte. „Die große Mehrheit der Bevölkerung hat aber mittlerweile die Chancen erkannt, die wir als Kommune durch das neue Wärmenetz erhalten“, setzt Bürgermeister Hans-Ulrich Frank auf Einsicht der bisherigen Kritiker. „Je konkreter nun das Vorhaben Gestalt annimmt, desto mehr Rückenwind bekommt es. Die früheren Einwände wie Lärm und Geruch verstummen“, registriert der CDU-Politiker auf den letzten öffentlichen Versammlungen im Ort. Und tatsächlich, so Erk Friedrichs, gäbe es schon jetzt mehr als 500 Interessierte Hausbesitzerinnen, die sich ernsthaft mit dem Thema grüne Wärmeversorgung qua Biogas beschäftigen.

Von daher ist der Vertriebsprofi sich ziemlich sicher, dass die Bioenergie Gettorf GmbH & Co KG schon bald einen Kundenstamm von 1.000 Wärmekunden erreicht haben wird. Das wäre dann rund ein Drittel aller Haushalte in der Kleinstadt, in dem es bemerkenswerter Weise an der Kieler Chaussee, der früheren Bundesstraße zwischen Kiel und Eckernförde, ein großes Tesla-Autohaus gibt. „Ja, darüber haben wir uns auch gewundert, dass Tesla ausgerechnet hier bei uns eine Niederlassung platziert“, räumt Frank ein, „aber wir liegen irgendwo auf halber Strecke zwischen Kopenhagen und Hamburg.“

Aber vollkommen unabhängig vom Gebaren des amerikanischen Konzerns gibt es das Gettorfer Nahwärmenetz, das die Kunden mit einer Vorlauftemperatur von 70 Grad Celsius direkt bis zur Hauswand beliefert, bisher allerdings erst in Teilen. Die Komplettversorgung des Ortes existiert bisher nur auf Plänen, die der Gründer der Gettorfer Bioenergie GmbH & Co KG, Martin Lass, mit Begeisterung auf einem wandgroßen Digital-Bildschirm wirft. Dabei müht sich Lass mit den Mitarbeitern des Partnerunternehmens Agrarservice Lass GmbH (ASL) schon seit geraumer Zeit mit genehmigungs- und baurechtlichen Problemen. Denn Kabel und Rohre von der Biogaserzeugung bis zum Verbraucher zu legen, ist genehmigungsrechtlich kein Zuckerschlecken; oft gehe es zwei Schritte vorwärts, aber auch wieder einen Schritt zurück. Alles muss im Einvernehmen mit der Kommune durchdekliniert werden.

Bisher werden von der Biogasanlage, die Lass mit seinem Landwirtskollegen Richard Bonse seit 2009 in der Gemeinde Tüttendorf an den Start gebracht hat, rund 80 Haushalte, ein großes Hospiz, den lokalen Tennisclub und ein Schul- und Sportkomplex seit einigen Jahren zuverlässig mit Wärme versorgt. „Wir kommen voran und am Ende werden alle unsere Mühen belohnt werden“, ist Berufsoptimist Martin Lass fest überzeugt. Im Büro seiner ASL, untergebracht in früheren Stallgebäuden des von ihm im Jahr 2005 übernommenen elterlichen Betrieb mit Schweinehaltung und mehreren hundert Hektar Ackerbau, skizziert er an einer großen digitalen Leinwand seine Nahvision für eine in allen Sektoren – Strom, Wärme und Mobiliät - CO2-freie Gettorfer Gemeinde. Dass dies in wenigen Jahren realisiert wird, daran lässt er gar keine Zweifel aufkommen. Vielleicht auch deshalb nicht, weil er in den zurückliegenden Jahren schon viele Sachen umgesetzt hat, worüber andere in der Biogas-Branche nicht mal nachgedacht haben.

So gehört Martin Lass bundesweit zu den lautesten Befürwortern der Flexibilisierung. Er selbst hat seine Biogasanlage inzwischen fünf Mal überbaut. Aus dieser offensiven Strategie heraus, die viele Betreiberkolleginnen bekanntermaßen nicht mitgegangen sind, ist die Idee eines Regenerativen Speicherkraftwerks entstanden, dass er als Dienstleister beispielsweise bei Mathias Schwartz in Langwedel erstmals errichtete. Und vor zwei Jahren hat Lass auf seiner eigenen Biogasanlage in Tüttendorf den größten Biogasspeicher Deutschlands errichten lassen. Er hat eine stattliche Größe von 44.000 Kubikmeter, ist drucklos und speichert Biogas mit einer Arbeit von 90.000 Kilowattstunden. Das ist ungefähr die Menge, die die Anlage der Bioenergie Gettorf in 60 Stunden produziert. Das „Tüttendorfer Ei“, wie es von Anwohnern bezeichnet wird, integriert sich dabei trotz der Höhe von 20 Meter besser in das Landschaftsbild, als man gemeinhin denken würde.

Nicht zuletzt wegen dieses großen Speichers, dem größten seiner Art in Deutschland, erhielt Lass im kürzlich vom Fachverband Biogas die Auszeichnung als eine „der besten Biogasanlagen Deutschlands“.  Wieso einer der besten? Weil Lass das gesamte System seiner Anlage im Blick hat und neben dem großdimensionierten Gasspeicher zusätzlich auch weitere Wärmepufferspeicher und zusätzliche Satelliten-BHKWs installierte. Dadurch erreicht sein Unternehmen eine extreme Flexibilität, die es in die Lage versetzt, die BHKW-Motoren wirklich nur noch dann hochzufahren, wenn nicht ausreichend Wind- und Solarenergie erzeugt wird und entsprechend höhere Preise zu erzielen sind. Martin Lass ist sich sicher: „Spätestens ab 2030 wird kein Biogasmotor mehr als 2.500 Stunden im Jahr in Betrieb sein.“

Ohnehin denkt Lass in Dimensionen und Perspektiven, die sich schon an eine Zeit orientiert, in der es das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vielleicht schon nicht mehr geben wird. Es geht ihm als Energieerzeuger und Wärmeversorger vielmehr um reale Lastgänge und -kurven, um Speicher- und Liefermanagement, denn um Vergütungen, Ausschreibungsgebote und dergleichen. Dem superaktiven Lass ist aus den Erfahrungen der letzten Jahre eines ganz klar geworden.  „Wir müssen endlich aus dem Quark kommen, denn mit dem bestehenden Rechtsrahmen ist die Energiewende als Ganzes nicht zu bewältigen“, meint er, „es gibt einfach eine massive Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die wir nur überwinden, wenn Wind, Solar und Biogas energiewirtschaftlich enger zusammenrücken“.

So kann er sich im smarten Zusammenspiel dieser drei Energiequellen sogar ein Inselnetz für Gettorf vorstellen, bei dem die Ladesäulen im Ort mit 100 Prozent erneuerbarem Strom aus seinem Unternehmen betrieben werden können.“ Dabei amortisieren sich die zusätzlichen Kosten zum Bau eines lokalen Ladesäulennetzes durch eine Dreifachanrechnung der Treibhausgas-Quote auf die zu tankende Kilowattstunde ziemlich schnell, so Lass. „Das ist eine Win-Win-Situation“, sagt er und frohlockt: „Wenn Du bei uns Wärmekunde bist, dann sparst Du inklusive den staatlichen Förderungen für den Einbau einer klimafreundlichen Heizung über eine Vertragslaufzeit von zehn Jahren rund 20.000 Euro!“

Was für ein mutiges Versprechen des zukünftigen Versorgers von Gettorf! Aber der Energiewirt Lass lässt sich nicht beirren, verfolgt seinen Plan zielstrebig weiter. Insgesamt plant er für sein innovatives Vorhaben mit einer installierten Kraftwerksleistung von insgesamt 15,2 MW. Davon stehen 3,1 MW an den Fermentern, 4,6 MW am ersten BHKW-Satellit und dann eine weitere Einheit mit 4,6 MW im Heizhaus Gettorf, wo bilanziell grünes Gas aus dem Netz bezogen wird, sowie ein noch zu bauendes BHKW am Friedhof von Gettorf, gegen das die Bürgerinitiative aufgrund befürchteter Emissionen aufbegehrte, mit einer Leistung von 2,9 MW.  Baubeginn soll noch in diesem Jahr sein, damit das Nahwärmenetz spätestens Ende 2024 voll einsatzbereit sein wird.

Die Effizienz um das Doppelte steigern

Ob dieses neue BHKW dann schon mit einer Brennstoffzelle vom Start-up Unternehmen Reverion aus Bayern ausgestattet sein wird, bleibt offen, aber es wäre der absolute Wunsch von Lass. „Mit der Brennstoffzellentechnik von Reverion steigern wir unsere Effizienz noch mal um das Doppelte! Und wir können innerhalb kürzester Zeit Gas zu Strom machen und den Strom wieder zu Gas, zu Wasserstoff und Methan machen“, begeistert sich Lass an der Innovation, die am Ende viel Maisfläche bei gleicher Energiemenge einspart. Ein verlockender Gedanke auch für jemand wie Lass, der, auch wenn er kein Bio-Landwirt ist, eine weitere Ökologisierung der Landwirtschaft für einen wichtigen Baustein auf dem Weg in eine CO2-neutrale Wirtschaft hält.

Die Erwartungen an Reverion sind also groß, würde doch, wenn sich der Wirkungsgrad wirklich verdoppeln ließe, das Ende der Ära der herkömmlichen BHKW-Motorentechnik einläuten. Gründer Dr.-Ing. Stephan Herrmann und sein junges Team lassen indessen kein Zweifel daran, dass sie die Biogasbranche in den nächsten Jahren revolutionieren wollen. „Es ist nicht die Brennstoffzelle selbst, was in unserer Entwicklung neu ist“, erklärt Stephan Hermann, „es ist das System, das wir entworfen haben, das ist innovativ.“ Mehrere Jahre hat sich der Physiker und promovierte Maschinenbauer mit der Materie, „rund zwei Drittel Chemie, rund ein Drittel Physik“ beschäftigt und hat mit Reverion ein paar Patente zur Prozesstechnik angemeldet. Eine erste Pilotanlage wird bald in Cham nordöstlich von Regensburg errichtet werden, dann will man die Technik rasch höher skalieren.

Und wer weiß, vielleicht kommt die Technik von Reverion doch noch rechtzeitig für Gettorf zum Einsatz. Uwe Weltecke-Fabricius, bundesweit bekannter Vordenker in Sachen Flexibilisierung von Biogasanlagen und auch eng mit der Gedankenwelt von Lass verbandelt, befürwortet die Innovation ausdrücklich. „Allerdings kostet diese faszinierende Technik noch rund 6000 Euro pro Kilowatt im Vergleich zu 800 Euro für ein installiertes Kilowatt herkömmlicher Gasmotoren“, wirft Weltecke-Fabricus ein, „da liegt noch eine ganze Welt dazwischen.“ Ohnehin, das räumt auch Lass ein, sei das Geschäftsmodell für Nachfolgeprojekte Regenerativer Speicherkraftwerke à  la Gettorf für potentielle Investoren bei hoher Inflation und steigenden Bau- und Finanzierungskosten angesichts eines fixen Flexzuschlags von 65 Euro pro Kilowatt im EEG derzeit im schwierigen Fahrwasser. Weshalb Weltecke-Fabricius für eine Erhöhung des Flexzuschlags auf 80 Euro plädiert; egal: Gettorf macht´s vor und wird ganz sicher ohne eine solche Erhöhung seine Wärmewende in Bälde vollenden. Dierk Jensen


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