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Nachgefragt
24. November 2021

„Die Vielfalt anerkennen und damit arbeiten“

Neben der Digitalisierung ist der Netzausbau ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Energiewende. Auch hier stellt sich die Frage, inwieweit zentrale oder dezentrale Strukturen sinnvoller sind. Es geht um Tempo, Kosten und Ausgewogenheit. Carolin Schenuit sieht Vorteile in der Standardisierung auf Verteilnetzebene, damit dort die Sektorenkopplung stärker vorangetrieben werden kann.

Carolin Schenuit ist Vorständin des Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft.

Carolin Schenuit ist Vorständin des Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft.
Foto: FÖS

Frau Schenuit, der notwendige Netzausbau wird kontrovers diskutiert – wie kann man sich dieser vielschichtigen Frage nähern?

Strom wird der wichtigste Primärenergieträger der Zukunft sein. Produktion und Nachfrage werden um ein Vielfaches steigen. Schon allein deshalb sind Netzausbau und die Ertüchtigung von Knotenpunkten und Leitungen unumgänglich. Die Integration von neuen technischen Anlagen findet vor allem im Verteilnetz statt, wo die meisten Wind und Solaranlagen einspeisen und Wärmepumpen und E-Autos Strom zapfen. Aber dort sind wir nicht gut auf die anstehenden Aufgaben vorbereitet. Im Selbstverständnis vieler Akteure wird der Leitungsneubau als einzige Lösung angesehen. Die Logik ist dabei: Jeder Bedarf muss zu jeder Zeit mit völliger Sicherheit bedient werden können. Aktives Netzmanagement wird als oft unnötig betrachtet, was den Aufbau einer aktiven, datenbasierten Steuerung hemmt.

Die Ausgangslage ist aber bestimmt sehr verschieden?

Ja, sogar sehr. Bei den rund 900 Verteilnetzbetreibern in Deutschland ist die Bandbreite sehr groß. Es gibt die Flächennetzbetreiber, die schon sehr gut aufgestellt sind. Meist auch, weil es größere Organisationen sind. Aber auf der kommunalen Ebene haben wir häufig noch den Netzbetrieb als Teil des Stadtwerkes. Diese meist kleinen Unternehmen müssen die regulatorischen Vorgaben genauso erfüllen wie die großen, haben aber weniger Personal und Ressourcen. Für sie ist es herausfordernd, sich intensiv mit den strategischen Fragen der Energiewende und deren Auswirkungen auf den Netzbetrieb auseinanderzusetzen. Wir brauchen mehr Gemeinsamkeiten, um schnelle Lernkurven für klimafreundliche Lösungen zu erreichen – aber eine Dynamik in diese Richtung gibt es nicht.

Sind deshalb zentrale Vorgaben und Regeln notwendig?

Im Moment können die tatsächliche Netznutzung, eventuelle Überlastungen oder freie Kapazitäten oft gar nicht richtig beurteilt werden, weil Messtechnik und Monitoring auf der Verteilnetzebene zu unscharf sind. Verbindliche und allgemeingültige Vorgaben, wie und nach welchen Prinzipien Verteilnetzausbau geplant wird, erachte ich als sinnvoll. Die Unternehmen sollten Entscheidungen auf vergleichbarer Datengrundlage treffen, sollten bei ähnlichen Szenarien auch ähnliche Schlussfolgerungen ziehen, wo das Netz ausgebaut wird oder wo andere Optionen gewählt werden.

Da wird den Akteuren aber wichtige Verantwortung entzogen.

Nein, im Gegenteil: So wird es überhaupt erst möglich, als einzelner Netzbetreiber im Sinne der Allgemeinheit Verantwortung für die Energiewende zu übernehmen. Es geht ja nicht darum, was im Einzelnen geplant wird, sondern wie – also darum, gemeinsame Ziele zu erreichen und diese auch transparent zu machen. Im Grunde geht es also darum, die Betroffenen zur Umsetzung der Energiewende zu ermächtigen. Dafür muss auch klar werden, was letztlich der Nutzen der Standardisierung ist, und die Umsetzung in der Netzkostenregulierung berücksichtigt werden. Die Netzbetreiber werden die Vorteile rasch zu schätzen wissen, vor allem, wenn gleichzeitig auch klare Zeitvorgaben für die Umsetzung seitens des Regulierers benannt werden.

Was genau fehlt denn, warum braucht es Ermächtigung?

Es geht sehr grundlegend um die Klärung der Kernaufgaben. Das ist zuerst eine Regulierungsaufgabe, aber dann vor allem auch eine Umsetzungsfrage. Die Vielfalt der Lösungen wird sich massiv erhöhen. Um die jeweils passenden Ansätze vor Ort zu identifizieren und umzusetzen, braucht es Menschen mit Motivation und Kompetenz, vor allem aber auch einen klaren Auftrag und Handlungsspielraum. Derzeit folgt die Netzkostenregulierung einer klar definierten Logik. Das übliche Vorgehen ist, eine Baumaßnahme zu planen und dafür die Kosten erstattet zu bekommen. Für andere Maßnahmen gibt es meist keine Anreize und die Kostenerstattung ist schwieriger. So wird eher mehr Netzausbau angeregt als vielleicht angemessen ist.

Sollten auch bei der Digitalisierung mehr Standards eingezogen werden?

Die Möglichkeiten und Potenziale der Digitalisierung sind hoch. Mit der damit einhergehenden Transparenz können Prozesse intelligent gesteuert und die Betriebsführung zukunftsfähig aufgestellt werden. Zwar sind die Leitwarten bereits stark digitalisiert, aber da hört es auch oft schon wieder auf. Stufenlos regelbare Trafos, Temperaturmonitoring der Leitungen und ähnliche technische Lösungen werden noch lange nicht flächendeckend verwendet, um den Zustand der Netze wirklich fundiert beurteilen zu können. Auch hier brauchen wir klare Anforderungen, wie schnittstellenoffene Software und Nachweispflichten, z.B. zum Fortschritt der Monitoringtiefe. Diese zum Teil sehr aufwändigen Aufgaben kann man gut regional oder auf Bundeslandebene bündeln.

Wo liegen dann die Vorteile der Dezentralität?

Die Netzbetreiber bekommen die Hände frei für die Sektorenkopplung. Dafür sind sie und die Stadtwerke, an die so oft noch angegliedert sind, optimal aufgestellt. Niemand kennt die lokalen Gegebenheiten besser: Welche Betriebe könnten Abwärme auskoppeln, welche Wohnungsbaugesellschaften könnten diese in Nahwärmenetzen nutzen? Hier können die Stromnetzbetreiber viel tun für die Energiewende in allen Sektoren und das sollten wir auch von ihnen erwarten. Im Moment ist das aber weder in der Anreizregulierung noch in der Umsetzung vorgesehen.

Ist Dezentralität eine Stärke?

Sie kann es auf jeden Fall sein; es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Wenn Planungslogiken sektorübergreifend miteinander verschränkt werden, kann Dezentralität ihre Stärken entfalten. Es geht nicht um Zentralisierung, sondern um Standardisierung, die für schnellere Umsetzbarkeit sorgen soll. Ich wünsche mir mehr Ableitungen von Erfolgsfaktoren, damit wir mehr Dynamik und Tempo erreichen. Wir haben sehr diverse Ausgangssituationen, die sich aus der Vielfalt unseres Landes ableiten: ländliche Regionen, urbane Zentren, industrielle Cluster. Diese Vielfalt müssen wir anerkennen und damit arbeiten. Weil das so ist, werden wir auch Unterschiede in den Kostenstrukturen sehen.

Bedeutet das ein weiteres Auseinandertriften der Netzentgelte?

Die Netzkosten werden zum immer wichtigeren Kostenfaktor der Energiewende. Infrastrukturen miteinander zu verbinden, erfordert bauliche Maßnahmen. Da geht es um viel Geld und um eine faire regionale Lastenteilung. Wenn die Erzeugungskosten einer Kilowattstunde Windstrom im Süden höher sind, ist das nur ein Faktor. Die Systemkosten werden dabei noch nicht mitgedacht. Wir müssen alle Potenziale nutzen und Windparks auch im Süden bauen, wo genug Wind weht, weil wir damit den bundesweiten Transportbedarf reduzieren und mehr Erneuerbare ins System bringen können. Dort, wo Strom regional erzeugt und direkt verbraucht wird, sollten die Netzentgelte geringer sein als dort, wo viel Transportbedarf verursacht wird. Es braucht mehr Transparenz zur Kostenzusammensetzung, mehr dynamische Entgeltanteile und mehr Einbezug der tatsächlichen Netzauslastung. Die Reform der Netzentgelte stand schon als Vorhaben in den letzten beiden Koalitionsverträgen. Die neue Bundesregierung muss sie nun endlich umsetzen.

Das Gespräch führte Petra Franke.


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