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Wege aus der globalen KlimakriseBedienungsanleitung zu einer neuen Wertschätzung der Natur

Bergtal mit Fluss in Neuseeland
Den Wert der Natur neu bewerten: In Neuseeland haben bspw. auch Flüsse, Berge und Bäume eigene Rechte. (Foto: Memory Catcher auf Pixabay Free License)

Der Weltbiodiversitätsrat hat im Auftrag der Vereinten Nationen eine umfassende Anleitung zu einem nachhaltigen Leben erarbeitet. Statt Gewinnmaximierung muss bei politischen Entscheidungen gelten, alle Vorteile der Natur ganzheitlich wertzuschätzen.

28.07.2022 – Unser kapitalistisches Wirtschafts- und Wertesystem beruht auf Wachstum, von allem soll es immer mehr geben – und damit allen besser gehen. Doch die Rechnung geht nicht auf. Die Ressourcen sind erschöpft. Viele Menschen sind es auch.

Für die Wohlstandsentwicklung beutet die Menschheit die Natur weit über Gebühr aus. Doch Wirtschaft und Natur existieren nicht unabhängig voneinander. Die Biodiversität geht verloren, der Mensch zerstört seine eigenen Lebensgrundlagen. „Das liegt vor allem daran, dass unsere derzeitige Herangehensweise an politische und wirtschaftliche Entscheidungen die Vielfalt der Werte der Natur nicht ausreichend berücksichtigt“, warnt Ana María Hernández Salgar, Vorsitzende des IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services). Wenn wir so weitermachen wie bisher, dann könnte die Erde bis zu einer Million Arten im kommenden Jahrzehnt verlieren, konstatierte der Weltbiodiversitätsrat 2019 auf einer Tagung in Paris.

Report zum guten Leben

Was der IPCC (Intergouvernmental Panel on Climate Change) für den Klimaschutz, ist der Weltbiodiversitätsrat IPBES für die biologische Vielfalt unseres Planeten. Internationale IPBES-Wissenschaftler haben nun im Auftrag der Vereinten Nationen vier Jahre lang eine umfassende Anleitung zu einem „nachhaltigen Leben“ erarbeitet. Der Report bezieht sich auf den IPBES Global Assessment von 2019, in dem die Rolle des Wirtschaftswachstums als Hauptursache für den Verlust der Natur identifiziert wurde, da Millionen Pflanzen- und Tierarten vom Aussterben bedroht sind. Im neuen Forschungsprojekt geht es nicht explizit um das Artensterben, sondern weiter gefasst um den Wert der Natur. Grundlage sind 13.000 Referenzen, darunter internationale Studien zum Thema sowie indigene und lokale Informationsquellen.

Wir müssen dahin kommen, so das große Fazit, alle Vorteile der Natur für den Menschen zu berücksichtigen, neu zu beurteilen und wertzuschätzen. Dazu gehörten auch die emotionalen, kulturellen und spirituellen Werte, welche die Natur für die Menschen ausmacht. Daraus könnte sich ein neues Wertesystem für die Menschheit ergeben.

Fokus auf kurzfristigen Gewinnen führt zum Kollaps der Ökosysteme

Der IPBES Assessment Report on the Diverse Values and Valuation of Nature macht deutlich, dass weltweit ein politischer Fokus auf kurzfristigen Gewinnen und Wirtschaftswachstum liegt – und die Berücksichtigung multipler Werte der Natur bei politischen Entscheidungen meist ausgeschlossen bleibe. Doch der Marktwert der Natur könne nicht in dieser Form beziffert werden. Denn diese Marktwerte spiegelten nicht angemessen wider, wie sich Veränderungen in der Natur auf die Lebensqualität der Menschen auswirkten. Die Politik übersehe dabei die vielen nicht marktbezogenen Werte, die mit den Beiträgen der Natur für die Menschen verbunden sind – etwa Klimaregulierung oder kulturelle Identität.

Krise als Chance

Die Art und Weise, wie die Natur bei politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen geschätzt wird, sehen die Wissenschaftler – Experten aus Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften – sowohl als wesentlichen Treiber der globalen Biodiversitätskrise – aber andersherum auch als Chance, ihr zu begegnen.

Politische Entscheidungsfindung besser lenken

Ziel des umfassenden Werkes ist es deshalb, vor allem politische Entscheidungsträger dabei zu unterstützen, die unterschiedlichen Arten, wie Menschen die Natur wahrnehmen und schätzen, besser zu verstehen. So bietet der Bericht eine neuartige und umfassende Typologie der Werte der Natur. Die Wissenschaftler haben dafür vier Werttypen der Natur identifiziert: Man kann von der Natur, in der Natur, mit der Natur und als Natur leben.

Das Leben „von der Natur“ fokussiert die Fähigkeit der Natur, Ressourcen für die Aufrechterhaltung des Lebensunterhalts, der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen bereitzustellen, wie etwa Lebensmittel und materielle Güter. „Von der Natur“ entspricht also der ökonomischen Bewertung, in der bspw. das Holz eines Baumes einen Marktpreis hat. Der Wald kann aber zugleich ein beliebtes Naherholungsgebiet sein oder auch Lebensraum für Menschen, was „in der Natur“ entspräche. „Mit der Natur zu leben“ bedeute in diesem Kontext, dass Bäume ein Recht auf Existenz haben. „Als Natur“ sieht die natürliche Welt als einen physischen, mentalen und spirituellen Teil des Menschen. Was bedeutet, die Erde und alle Lebewesen als ein kollektives Ganzes zu begreifen, in dem das Wohlergehen aller Menschen, Tiere und Pflanzen voneinander abhängt.

Wertewandel unvermeidlich

Um einen systemweiten Wandel herbeizuführen, der notwendig wäre, um die derzeitige globale Krise der biologischen Vielfalt zu bewältigen, müssten politische Entscheidungen auf Grundlage dieser vielfältigen Werte der Natur getroffen werden, fordert Patricia Balvanera, Mitautorin des IPBES-Berichts. „Dazu gehört es, Entwicklung und Lebensqualität neu zu definieren und die vielfältigen Beziehungen der Menschen zueinander und zur natürlichen Welt anzuerkennen.“ Entwicklung dürfe nicht länger gleichbedeutend mit steigendem materiellem Wohlstand sein, sondern den Wert eines intakten Ökosystems beziffern.

Berg, Fluss, Wald als Rechtsperson

Einige Länder haben der Natur bereits Rechte eingeräumt. Es gibt Flüsse, Berge oder Wälder, die eine eigene Rechtsperson darstellen. So haben etwa Neuseeland, Bolivien oder Ecuador neue Gesetze teilweise in der Verfassung verankert, welche die Benachteiligung der indigenen Bevölkerung verhindern sollen und der Natur Rechte einräumt. Ende 2021 entzog etwa das Verfassungsgericht in Ecuador Bergbaugenehmigungen für den Nebelwald Los Cedros und bestärkte damit die verfassungsrechtlich verankerten Rechte der Natur.

Demokratisierung der Entscheidungsfindung

Um die verschiedenen Wertesysteme angemessen zu berücksichtigen, müssten alle einbezogen werden, die von einer Entscheidung betroffen sind. Das könne beispielsweise durch einen Rat organisiert werden, der alle betroffenen Interessengruppen zusammenbringt. Davon sind wir meilenweit entfernt, denn „nur zwei Prozent der mehr als 1.000 untersuchten Studien konsultieren die Interessengruppen zu den Bewertungsmethoden, und nur ein Prozent der Studien bezieht die Interessengruppen in jedem Schritt des Naturbewertungsprozesses ein“, betont IPBES-Autor Unai Pascual vom baskischen Klimaforschungszentrum BC3.

Es geht jetzt um alles

Das Versagen der Wirtschaft, den wahren Wert der Natur zu berücksichtigen, setze die gesamte Menschheit einem extremen Risiko aus, denn damit werde ihre eigene Lebensgrundlage vernichtet, warnt der Weltbiodiversitätsrat noch einmal eindrücklich. Alle bisherigen Analysen werden nur unzureichend in praktische Politik umgesetzt. Das muss sich ändern. „Unsere Analyse zeigt, dass verschiedene Wege dazu beitragen können, eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu erreichen. Der Bericht legt besonderes Augenmerk auf zukünftige Wege in Bezug auf „grüne Wirtschaft“, „Degrowth“, „Earth Stewardship“ und „Naturschutz“. Und obwohl jeder Weg von unterschiedlichen Werten untermauert werde, „teilen sie Prinzipien, die auf Nachhaltigkeit ausgerichtet sind“, sagt Mitautor Pascual. Zur Nachhaltigkeit könnten auch Wege führen, die sich aus unterschiedlichen Weltanschauungen und Wissenssystemen ergeben.

Die Rettung der Welt wird vertagt

Eigentlich wollten sich die Staaten der Erde schon 2020 auf einem UN-Gipfel im chinesischen Kunming gemeinsame Umwelt-Ziele für das Jahrzehnt setzen, um die Trendwende gegen das Artensterben einzuleiten. Corona kam dazwischen. Der Gipfel wurde 2021 virtuell absolviert. Ein Präsenz-Treffen soll es nun im Dezember dieses Jahres in Kanada geben. Dort soll der umfassende Report zu einer grundsätzlichen Wende unseres gesamten Wertesystems den Verantwortlichen erläutert werden. na


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