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Nach der BundestagswahlTurbo-Klimaschutzprogramm für die ersten 100 Tage gefordert

Blick auf das Berliner Regierungsviertel mit Radlern im Vordergrund
Gleich nach der Bundestagswahl muss sich die neue Bundesregierung mit Klimaschutz-Sofort-Maßnahmen beschäftigen – von der Energie- bis zur Verkehrswende. (Foto: pxfuel / Free License)

Wer auch immer die nächste Bundesregierung bilden wird, muss das größte und radikalste Klimaschutzprogramm in der BRD-Geschichte starten, fordern Experten. Die im Klimaschutzgesetz festgelegten verschärften Ziele machen diesen Schritt obligatorisch.

02.09.2021 – Die Klimaschutzprogramme der großen Parteien liegen vor und machen insgesamt wenig Mut. „Es braucht das größte Klimaschutzprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik – und das in den ersten 100 Tagen“, kommentiert Agora-Chef Patrick Graichen die Situation. Das sei nicht etwa eine Forderung von Klimaschutzgruppen, sondern folge zwingend aus dem geltenden Klimaschutzgesetz mit den verschärften Zielen. Daraus ergebe sich eine Verdreifachung des Tempos beim Klimaschutz bis zum Jahr 2030.

Die Think Tanks Agora Energiewende, Stiftung Klimaneutralität und Agora Verkehrswende haben daher in ihrem Klimaschutz-Sofortprogramm 22 Handlungsempfehlungen mit schnell umsetzbaren Maßnahmen für die neue Legislaturperiode vorgelegt. Die neue Bundesregierung hat laut Studie keine andere Wahl, als ein radikales Sofortprogramm mit Klimaschutzmaßnahmen zu starten.

Dazu gehört ein sehr viel schnellerer Ausbau Erneuerbarer Nicht abwarten und dann Trippelschritte gehen, sondern zupacken und den Turbo anwerfenEnergien, der Kohleausstieg bis 2030, Tempolimits auf Autobahnen und in Städten – Maßnahmen, die laut Studie schnell beschlossen werden könnten. „Nicht abwarten und dann Trippelschritte gehen, sondern zupacken und den Turbo anwerfen“, fordert Graichen.

Corona-Pause vorbei, Emissionen im Höhenflug

Nach neuen EU-Beschlüssen und einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte die Bundesregierung das Klimaziel für 2030 verschärft. Es müssen demnach mindestens 65 Prozent Treibhausgase gegenüber 1990 eingespart werden, 2020 lag Deutschland bei 40 Prozent – das war aber dem Lockdown in der Corona-Krise geschuldet. 2021 steigen die Emissionen schon wieder stark an.

Damit sei Deutschland weit davon entfernt, die vereinbarten Ziele zu erreichen. Um diese Lücke zu schließen, müssten künftig jährlich 30 bis 40 Millionen Tonnen CO₂ eingespart werden – der Trend der letzten Jahre war jedoch eine Minderung von etwa 14 Millionen Tonnen CO₂ pro Jahr, berichten die Studienautoren. Die nächste Bundesregierung werde daher ihre Klimaschutzanstrengungen gegenüber dem Status Quo etwa verdreifachen müssen.

An vorderster Stelle steht die Verdreifachung von Strom aus Erneuerbaren Energien. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung muss bereits bis zum Jahr 2030 erfolgenGenehmigungsverfahren beschleunigt, die Akzeptanz für den Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen verbessert und die nötige Infrastruktur für den Stromtransport gebaut werden, so Rainer Baake, Chef der Stiftung Klimaneutralität. „Zudem muss der Ausstieg aus der Kohleverstromung bereits bis zum Jahr 2030 erfolgen.“

Neben dem EU-Emissionshandel solle ein nationaler CO₂-Mindestpreis diese Entwicklung absichern. Dieser müsse 2025 bei 50 Euro starten und bis 2030 auf mindestens 65 Euro steigen. „Man muss den Leuten jetzt reinen Wein einschenken“, sagt Graichen. „Der Kohleausstieg kommt acht Jahre früher als bisher geplant. Braunkohletagebaue und Strukturwandel brauchen Planungssicherheit, die Politik ist hier in der Pflicht.“

Fahrplan für die Koalitionsverhandlungen

Die amtierende Bundesregierung beschloss im Gesetz zwar die Ziele, hat sich auf die erforderlichen neuen und verschärften Instrumente jedoch nicht mehr verständigt. Die Maßnahmen für die Schlüsselsektoren Strom, Verkehr, Industrie, Gebäude und Landwirtschaft seien so konzipiert, dass sie in den ersten 100 Tagen vom Kabinett beschlossen werden und noch im Sommer 2022 in Kraft treten könnten, meinen die Experten. Die Studie solle den Parteien Input geben, die nach der Bundestagswahl am 26. September in Koalitionsverhandlungen eintreten werden.

Zu den entscheidenden Bausteinen gehörten ein sinkender Strompreis bei steigenden CO₂-Preisen, umfassende Förderprogramme für Gebäudesanierung, Preisanreize für klimafreundlichen Verkehr, Landwirtschaft und Industrie, ein Abbau klimaschädlicher Subventionen und steuerliche Anreize. Eine Beschleunigung von Investitionen – besonders in den Ausbau Erneuerbarer Energien – und ordnungsrechtliche Standards ergänzen den klimapolitischen Instrumentenmix.

Nachhaltig investieren, und zwar sofort

Die Studienautoren haben einen Sonder-Klimahaushalt im Umfang von 30 Milliarden Euro für Investitionen ausgerechnet – der werde nötig sein, vor allem für die klimaneutrale Energieversorgung von Unternehmen und eine grüne Wasserstoff-Infrastruktur. Woher soll das Geld kommen? „Dafür sind neben privaten auch umfassende öffentliche Mittel erforderlich, die über neue Investitionsfonds bereitgestellt werden können“, sagt Graichen.

Klimaschutz wirtschaftlich belohnen

Die klimafreundliche Alternative müsse zudem wirtschaftlich attraktiver als die fossile Variante werden. „Die Wärmepumpe muss günstiger werden als die Ölheizung und das Elektroauto günstiger als der Verbrenner“, sagt der Chef der Stiftung Klimaneutralität Rainer Baake. Zudem dürften ab 2024 keine neuen Öl- und Gasheizungen mehr installiert werden. Für Neubauten und Dachsanierungen sollte eine Solarpflicht eingeführt werden. Den klimaneutralen Neubau und die klimaneutrale Gebäudesanierung wollen die Klimaexperten jährlich mit zwölf Milliarden Euro fördern.

Weniger Verkehr, mehr Elektro

Die Kfz-Steuer sollte am CO2-Ausstoß ausgerichtet und das Steuerprivileg für Diesel abgeschafft werden. Damit der Umstieg auf Elektromobilität kontinuierlich vorangeht, setzt das Sofortprogramm auf einen Masterplan für den Ausbau der Ladeinfrastruktur und ein Investitionsförderprogramm für die Elektrifizierung des ÖPNV. Der Bundesverkehrswegeplan müsse einem „Klimastresstest“ unterzogen werden. Alle Projekte sollten danach bewertet werden, ob sie mit den Klimaschutzzielen der Bundesregierung vereinbar sind.

EEG-Umlage abschaffen

Die schnellstmögliche Abschaffung der EEG-Umlage sei entscheidend, damit die Stromkosten nachhaltig sinken. Im Gegenzug sollte der CO₂-Preis bereits ab 2023 auf 60 Euro ansteigen und dann mit einem Preiskorridor auf 80 bis 100 Euro im Jahr 2025 erhöht werden.

Nachhaltigkeitspflicht von Unternehmen ausweiten

Mit einem gesetzlich festgelegten Ende der Nutzung von fossilen Energieträgern in allen Bereichen der Volkswirtschaft am 1. Januar 2045 bleiben 22 Jahre Zeit für Abschreibungen und Anpassungen, heißt es in der Studie. Um Fehlinvestitionen zu vermeiden, müsste laut Sofortprogramm daher das Ziel der Klimaneutralität 2045 in allen privaten und öffentlichen Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen berücksichtigt werden. Daher sollten die Nachhaltigkeitsberichtspflichten für Unternehmen und Finanzmarktakteure entsprechend ausgeweitet werden.

Großer Brocken Industrie

Um die erforderlichen Emissionsminderung in der Industrie bis 2030 zu erreichen, müssen vor 2030 etwa die Hälfte der Anlagen in der Stahl-, Chemie- und Zementindustrie durch klimaneutrale Technologien ersetzt werden.  Die drei Thinktanks plädieren für eine Wasserstoffstrategie 2.0, die den Fokus auf einen raschen Aufbau von Erzeugungskapazitäten sowie der Finanzierung und dem Aufbau eines Wasserstoff-Startnetzes legt.

Weg von der Massentierhaltung, natürliche CO2-Senken schaffen

Auch den Sektor Landwirtschaft haben die Wissenschaftler in der Studie unter die Lupe genommen.  Weniger Tiere, mehr Tierwohl und gute Ernährung – das sind die Forderungen für Maßnahmen in diesem Bereich: Mit einer Reduktion des Fleischkonsums und anderer tierischer Produkte, der Reduktion der Tierhaltung in Deutschland und der Verringerung der Nutzung mineralischer Düngemittel. Zudem fordern sie eine Moorschutzstrategie. Deren Ziel müsse die weitgehende Wiedervernässung bis 2045 sein, damit Moore von CO₂-Treibern zu CO₂-Senken werden.

Aufgaben auf EU-Ebene

Parallel zu den nationalen Bemühungen sollte die neue Bundesregierung auch auf europäischer Ebene Klimaschutz weiter forcieren – und die Verhandlungen in Brüssel um die Maßnahmen zur Umsetzung des neuen 55-Prozent-Ziels unterstützen. Kurzfristig müssten die umfangreichen Mittel aus dem neuen EU-Haushalt und dem Corona-Konjunkturprogramm zielgerichtet für beschleunigten Klimaschutz genutzt werden. na


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