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Nachgefragt
26. November 2020

„Da werden einfach Interessen vernachlässigt“

Fraktionszwang und überbordender Lobbyismus führen zu Politikverdrossenheit beklagt der Bundestagsabgeordnete Marco Bülow, der 2018 aus der SPD austrat, weil er die Politik der Großen Koalition nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Inzwischen ist er bei „Die Partei“ eingetreten. Er fordert demokratische Mitbestimmung, nicht nur alle vier Jahre.

Marco Bülow, Mitglied des Bundestags

Marco Bülow, Mitglied des Bundestags
Marco Bülow bei einer Rede
Foto: Willi Weber

Die Bevölkerung muss mit unzureichenden Klima- und Kohlegesetzen leben. Was läuft falsch in unserem demokratischen System?

Der belgische Historiker David van Reybrouck sagte einmal, dass Wahlen heutzutage primitiv seien, da eine Demokratie, die sich nur darauf konzentriert, dem Tode geweiht ist. Das ist ein harter Spruch, aber auch ich sehe die Entwicklung kritisch. Ich habe das Gefühl, dass wir auf eine Fassadendemokratie hinauslaufen, in der sich die Einwirkungsmöglichkeit der Menschen auf Wahlen reduziert. Politikerinnen und Politiker sind heutzutage getrieben vom Lobbyismus großer Konzerne. Der Fraktionszwang im Bundestag führt dazu, dass alles schon im Vorfeld entschieden und die Mehrheit im Bundestag gesichert ist, egal ob fachlich begründet oder nicht. Die Opposition kann derweil machen was sie will, gehört wird sie nicht. Und die Menschen müssen auf die nächste Bundestagswahl warten, wo sie eine Partei wählen, die Sachen verspricht, aber häufig nicht hält. Es gibt eine zunehmende Hilfslosigkeit in der Bevölkerung, was dazu führt, dass Leute nicht mehr wählen gehen.

Wie kann es für Demokratie und den Klimaschutz besser laufen?

Frankreich hat zuletzt gezeigt, wie ein Verfahren direkter Demokratie funktionieren könnte. Dort wären in Folge einer geplanten Ökosteuer die Preise für Sprit gestiegen, was landesweite Proteste nach sich zog, die als Gelbwesten-Bewegung bekannt wurde. Daraufhin setzte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron eine BürgerInnenversammlung ein, die über Maßnahmen für den Klimaschutz beraten sollte und deren Forderungen der Präsident umsetzen will. Man hätte erwarten können, dass sich die Menschen vor allem für günstigere Spritpreise einsetzen, doch im Endeffekt wurde sehr einhellig beschlossen Klimaschutzmaßnahmen zu verstärken, also Erneuerbare Energien auszubauen, das Tempolimit noch einmal zu reduzieren und Klimasünder stärker zur Verantwortung zu ziehen. Macron hat versprochen sich den Forderungen anzunehmen. Aber gerade sieht es so aus, als würden die Forderungen nicht umgesetzt.

Wie kam es zu den überraschend radikalen Forderungen?

Die Bürgerinnen und Bürger konnten sich eingehend mit den Themen auseinandersetzen, Expertinnen und Experten anhören und darüber diskutieren. Und diese Diskussionen sind offener, weil sie nicht durch Lobbyistinnen und Lobbyisten beeinflusst sind. Es gibt keinen Fraktionszwang. Die Teilnehmenden können frei ihre Meinung sagen. Sie haben nicht ihre Karriere und die nächste Wiederwahl im Blick. Und ich glaube, dass auch in Deutschland eine BürgerInnenversammlung viel stärkere Maßnahmen für den Klimaschutz fordern würde, als es die Bundesregierung umsetzt. Dass zeigen schon Umfragen zu einzelnen Themen.

In Deutschland gibt es auf Landesebene zumindest die Möglichkeit von Volksabstimmungen.

Bei Volksabstimmungen ist es tendenziell so wie bei Wahlen, wo sich vor allem Bevölkerungsgruppen beteiligen, die einen hohen Bildungsgrad haben. Übrigens auch eine große Schwäche des Bundestags. Dort sind 84 Prozent Akademikerinnen und Akademiker vertreten, deren gesamtes Umfeld häufig ebenfalls von Universitäten kommt und wohlbehütet aufgewachsen ist. In der Bevölkerung aber gibt es nur 20 Prozent mit einem Hochschulabschluss. Da werden einfach Interessen vernachlässigt. Volksabstimmungen auf Bundesebene müssten ausgewogen in der Bevölkerung diskutiert und alle Bevölkerungsteile mitgenommen werden, dann kann es funktionieren. Vorstellbar wären zum Beispiel solche Abstimmungen in Kombination mit BürgerInnenversammlungen. Wichtig ist, dass solche Elemente der Beteiligung der Bevölkerung auch tatsächlich in Gesetzesinitiativen münden und nicht nur einen appellativen Charakter haben.

Wie stehen in Deutschland aktuell die Erfolgschancen für mehr direktdemokratische Verfahren?

Relativ negativ, habe ich das Gefühl. Im Augenblick konzentriert sich alles wieder auf die Parteien, die ausdünnen, die keinen echten Nachwuchs haben. Es gibt im Bundestag immer weniger Menschen, die sich bei bestimmten Fragen dem Fraktionszwang widersetzen. Deswegen muss der Druck von außen kommen. Demokratie muss sich immer weiter entwickeln. Dazu muss man gar nicht den Parlamentarismus abschaffen, sondern man kann ihn ergänzen.

Inzwischen gibt es in Deutschland einen Bürgerrat auf Bundesebene.

Die Bundesregierung unterstützt einen zweiten Bürgerrat, der vom Verein Mehr Demokratie organsiert wird. Das Thema wird „Deutschlands Rolle in der Welt“ sein. Ich befürchte, dass am Ende die Enttäuschung groß und die Resonanz niedrig seien wird, da es dem Thema an Relevanz fehlt. Als Testfeld begrüße ich diesen Schritt, aber es ist wichtig, danach einen Bürgerrat zu machen, der klare Positionen vertreten kann. Wo die Beschlüsse Auswirkungen haben, vom Bundestag diskutiert werden – und im besten Fall in Gesetzesinitiativen münden.

Heute überreicht ein breites Bündnis einen Offenen Brief an den Umweltausschuss des Bundestags, mit der Forderung nach einem Bürgerrat zu Klimagerechtigkeit und Wege aus der ökologischen Krise.

Ich unterstütze den Vorschlag absolut. Ich bin Initiator des gemeinnützigen Vereins „plattform.PRO“, der sich mit Fragen der Mitbestimmung, der Transparenz und des Lobbyismus‘ auseinandersetzt. Wir waren an der Entstehung des Aufrufs beteiligt und sind Mitunterzeichner. Der Erfolg hängt davon ab, wie viele Menschen, Politiker*innen und Parteien wir erreichen und überzeugen können.

 

Das Interview führte Manuel Först

Das Interview erschien ebenfalls in der aktuellen Ausgabe der energiezukunft, mit dem Thema Gerechter Wandel.


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