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Die Meinung
08. November 2023

Klimapolitik? Nicht ohne uns! - Der Bürgerrat Ernährung

Der Umbau zu einer klimaneutralen Gesellschaft scheitert nicht an technischer Machbarkeit - sondern daran, zu entscheiden, wie wir ihn als Gesellschaft angehen wollen. Der „Bürgerrat Ernährung“ zeigt auf, wie wir Entscheidungen besser gemeinsam treffen könnten - damit hieraus dann politische Handlungen folgen, ist die richtige Einbettung zentral.

Leonie Sendker und Isabelle Idilbi, Klimamitbestimmung e.V.  

Leonie Sendker und Isabelle Idilbi, Klimamitbestimmung e.V.  
Links eine Frau mit rötlichen, langen Haaren, rechts eine Frau mit braunen, langen Haaren
Fotos: privat

Am 29. September startete mit dem „Bürgerrat Ernährung“ ein neues Beteiligungsformat. Vom Bundestag in Auftrag gegeben, hat er das Potenzial, Bewegung in die Ernährungswende zu bringen. Er bringt 160 Menschen aus ganz Deutschland zusammen, die gemeinsam um die Frage ringen „Wie wollen wir essen?“. Ein Bürger:innenrat bietet die Möglichkeit, notwendige Veränderungen in kontrovers diskutierten Themen anzuschieben, auch beim Klimaschutz. Damit der Prozess gesellschaftliche Veränderung anschieben kann, bedarf es der richtigen politischen Einbettung.

Was ist der „Bürgerrat Ernährung“?

Der „Bürgerrat Ernährung“ ist der erste vom Bundestag einberufene, bundesweite Bürger:innenrat und befasst sich aktuell bis Februar 2024 mit dem Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“. Über einen Zeitraum von fünf Monaten kommen 160 zufällig ausgeloste Menschen aus ganz Deutschland an drei Präsenzwochenenden und in sechs Onlinetreffen zusammen, werden von Expert:innen aus dem Bereich Ernährung informiert und diskutieren danach über mögliche Vorschläge. Die finalen Empfehlungen werden zum Schluss von allen Teilnehmenden abgestimmt und dann als Bürger:innengutachten an die Politik übergeben.

Wichtig ist hierbei, dass ein Bürger:innenrat ergebnisoffen arbeitet, also dass er zwar Antworten auf die gestellte Frage finden soll, aber ansonsten frei darin ist, wie diese aussehen. In anderen Ländern wie Irland, Frankreich und Großbritannien wurden bereits erfolgreich Bürger:innenräte zu unterschiedlichen Themen durchgeführt, und auch in Deutschland kam das Instrument auf Kommunal- und Landesebene bereits zum Einsatz. Der „Bürgerrat Klima“, initiiert aus der Zivilgesellschaft, oder der „Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt“, initiiert durch den Ältestenrat des Bundestages, lieferten in den letzten Jahren erste Beispiele für ein bundesweites Format. Die Ampel-Regierung nahm das Instrument 2021 in ihren Koalitionsvertrag auf - im Mai diesen Jahres folgte dann der Einsetzungsbeschluss des Bundestages für den Bürgerrat „Ernährung im Wandel“.

Nach der offiziellen Eröffnung des Bürger:innenrates durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas Ende September fanden bereits das erste Wochenende vor Ort in Berlin und eine Onlinesitzung statt. Zu Beginn des Prozesses konnten sich die Bürger:innen entscheiden, mit welchen Aspekten sie sich vertieft auseinandersetzen möchten und entschieden sich für die Themen „Label und Kennzeichnung von Lebensmitteln“, „Tierwohl und Tierhaltung“ und „Bezahlbarkeit von Lebensmitteln“. Hier wird nochmals deutlich, dass der Fokus dieses Bürger:innenrates nicht allein auf Klima- und Umweltaspekten liegt, sondern auch Fragen der Gesundheit und des Verbraucher:innenschutzes eine Rolle spielen. Während des Bürger:innenrates können sich die Teilnehmenden entscheiden, weitere Themen hinzuzunehmen und Expert:innen einzuladen, damit die Empfehlungen ihre Debatten bestmöglich widerspiegeln.

Ein Beitrag zum Klimaschutz - direkt und indirekt

Das System, um uns alle tagtäglich mit Lebensmitteln zu versorgen, trägt global am meisten zu den jährlichen Treibhausgasemissionen bei. Veränderungen in diesem Bereich können dazu beitragen, klimaschädliche Emissionen zu reduzieren und den Schutz von Artenvielfalt sowie die Qualität der Gewässer und der Böden zu erhöhen. Ernährung ist gleichzeitig ein sehr persönliches Thema - jede Person ist mit bestimmten Gerichten aufgewachsen, hat sich an Lebensmittel gewöhnt und Essen begleitet uns durch den Alltag. Das Thema Ernährung bietet ein spannendes Beispiel dafür, welche Dinge einem informierten Querschnitt der Bevölkerung wichtig sind, wenn sie gemeinsam über nachhaltige Lösungen beraten.

Der „Bürgerrat Ernährung“ kann somit auch Einblicke liefern, wie wir als Gesellschaft in vermeintlich umkämpften Bereichen des Klimaschutzes, sei es Wohnen, Verkehr oder Energie, gemeinsame Lösungen finden können. Wo werden Schwerpunkte gesetzt? Welche erwarteten Probleme blieben in der Diskussion vielleicht aus? Studien zu vergangenen Bürger:innenräten haben gezeigt, dass Menschen in einem Bürger:innenrat gemeinwohlorientierter entscheiden. Solche Entscheidungen sind dringend nötig zur Überwindung von klimapolitischer Kurzsichtigkeit auf Kosten zukünftiger Generationen.

Wie Bürger:innenräte festgefahrene Konflikte lösen können

Bürger:innenräte als umfassendes Beteiligungsformat haben das Potenzial, Patt-Situationen und Lock-in-Effekte z.B. in der Klimapolitik zu überwinden. Das hat mehrere Gründe: Erstens können in einem Bürger:innenrat mehr umfassende und langfristige Lösungen in Betracht gezogen werden, da er nicht durch tagesaktuelle Medienberichte oder Wahlzyklen getrieben ist. Die Teilnehmenden müssen nicht um ihre Wiederwahl bangen und vertreten keinen Wahlkreis – ihre Einschätzung als Stadtmensch, Großmutter, Studentin, Vater oder Rentnerin vom Land ist gefragt.

Zweitens werden die Teilnehmenden in einem zweistufigen Verfahren ausgelost, sodass ein möglichst breiter Querschnitt der Gesellschaft zusammenkommt und miteinander in einem geschützten Umfeld spricht. Es werden hier auch Menschen beteiligt, die bei anderen Verfahren häufig unterrepräsentiert sind. Das erhöht einerseits die Qualität der gefundenen Empfehlungen durch die Vielzahl an vertretenen Perspektiven, andererseits finden Beobachter:innen leichter Anknüpfungspunkte bei den Teilnehmenden und können sich mit den gefundenen Lösungen idealerweise stärker identifizieren.

Drittens wird dafür gesorgt, dass die Teilnehmenden einen passenden Rahmen haben, um miteinander ins Gespräch zu kommen und unterschiedliche Positionen nachzuvollziehen. Sie starten mit einem gemeinsamen Wissensstand durch die Expert:inneninputs zu Beginn des Bürger:innenrats, können sich weitere Expert:innen während des Prozesses einladen, und die Diskussionen in Klein- und Großgruppen werden professionell moderiert, sodass auch stillere Teilnehmende genug Platz für ihre Argumente und Sorgen bekommen.

Zu diesem Potenzial kommen langfristige Effekte für die Demokratie hinzu. Ein Bürger:innenrat kann dabei helfen, Gräben zu überwinden und dazu beitragen, dass soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz nicht gegeneinander ausgespielt werden. Zusätzlich tragen die Teilnehmenden ihre Erfahrung zurück in die Gesellschaft. Nach vergangenen Bürger:innenräten begannen viele der ehemaligen Teilnehmenden sich für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu engagieren und machten mit ihren Erzählungen demokratische Teilhabe für ihr Umfeld greifbarer.

Was Politik, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft tun können, um die positiven Effekte zu verstärken

Die Frage, die sich für viele Menschen als Erstes stellt, wenn sie von Bürger:innenräten hören, ist: Was passiert nach dem Bürger:innenrat mit den Empfehlungen? Und genau hier liegt die Crux. Einerseits ist es wichtig, dass ein Bürger:innenrat keine Gesetze schreiben oder die demokratisch gewählten Abgeordneten zu einem bestimmten Vorgehen zwingen kann. Andererseits müssen Politiker:innen deutlich machen, dass sie sich ernsthaft mit den Empfehlungen und deren Umsetzung auseinandersetzen. Und hier liegt eine der großen Schwächen des aktuellen „Bürgerrat Ernährung“: Die Frage nach dem Umgang mit den Empfehlungen ist nicht ausreichend beantwortet. Laut Einsetzungsbeschluss ist eine Aussprache im Bundestagsplenum und eine Überweisung an den federführenden Ernährungsausschuss vorgesehen.

Dieses Vorgehen greift zu kurz, und zwar aus den folgenden Gründen: Erstens sollte vermieden werden, dass die Empfehlungen in einer Schwebe bleiben, weil sich keine staatliche Stelle hierfür verantwortlich fühlt, denn eine Aussprache ist noch kein Umsetzungspfad. Zweitens erschwert es den Teilnehmenden, die Relevanz ihrer Arbeit einzuschätzen. Drittens birgt es die Gefahr, dass es zur „Rosinenpickerei“ kommt, also dass vorteilhafte Empfehlungen aufgenommen, aber unangenehme unter den Tisch fallengelassen werden. In vorangegangenen Bürger:innenräten hat sich stattdessen das Vorgehen „Umsetzen oder Erklären“ bewährt, wie beispielsweise beim „Berliner Klimabürger:innenrat“ 2022.

Zu jeder Empfehlung musste hier in einem vorgegebenen Zeitraum ein Statement abgegeben werden, ob eine Umsetzung erfolgt oder, falls keine erfolgt, welche konkreten Gründe dagegen gesprochen haben. Wir als Zivilgesellschaft können und müssen dafür plädieren, dass wir als Bürger:innen an wichtigen Entscheidungsprozessen auf politischer Ebene beteiligt werden und dahingehend den „Bürgerrat Ernährung“ und zukünftige Bürger:innenräte unterstützen und bewerben.

Das bedeutet für uns, den aktuellen Bürgerrat zu verfolgen, darauf zu reagieren, darüber zu berichten, sowie Empfehlungen aufzunehmen - und öffentlichen Druck erzeugen, wie diese in den folgenden Monaten verhandelt und umgesetzt werden könnten. Öffentliche Aufmerksamkeit für dieses demokratische Instrument, das eine neue Ebene der Partizipation von Bürgerinnen und Bürgernüber Wahlen hinaus verspricht, ist mitentscheidend für den nachhaltigen Erfolg von Bürger:innenräten. Wir sehen die Chance, die Demokratie in Deutschland durch sie zu ergänzen und zu fördern - was wichtiger denn je scheint.

Was kommt nach dem „Bürgerrat Ernährung“?

Der aktuell stattfindende „Bürgerrat Ernährung“ ist der erste vom Bundestag per Beschluss eingesetzte Bürger:innenrat. Er hat das Potenzial, einen wertvollen Beitrag zum gesellschaftlichen Streitthema Ernährung zu leisten. Weg von Polemiken über Currywurst und Veggie Day, hin zu einer ehrlichen Debatte, wie wir in Zukunft essen wollen. Ob dieses Potenzial Realität wird, hängt an der tatsächlichen Berücksichtigung der Empfehlungen. Wir brauchen einen transparenten, verbindlichen Umgang mit der Meinung der Bürger:innen von Seiten des Bundestages - damit Bürger:innenräte nicht zu einem „Laberkreis“, sondern einem wirklichen Problemlösungsinstrument werden. Für das Gesprächsklima in Deutschland und für eine sozialgerechte Klimapolitik.

Klimamitbestimmung e.V. setzt sich für für die Einbindung von politisch einberufenen und öffentlichkeitswirksamen Bürger:innenraäten für die sozial-ökologische Transformation ein.




Kommentare

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Tim Weyrauch 12.11.2023, 23:39:29

Sehr schön sachlich zusammengefasst. Ich hoffe das die Politik die Antworten auf die Leitfragen die sie an den Bürgerrat gestellt hat ernst nimmt.


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